Die schwarze Kathedrale
eigentlich nur schwer behaupten. Vermutlich ist er eher ein Original. Und diese Originalität besteht hauptsächlich in der extremen Ordnung, die er in seinem Leben hält. Er ist wie Kant, der Philosoph, der seine täglichen Geschäfte mit solcher Regelmäßigkeit wahrgenommen haben soll, daß die Leute in seiner Stadt die Uhren nach ihm stellen konnten.«
»Gibt es denn Gründe für seine Pünktlichkeit und seine Ungeselligkeit?«
»Der Grund für beides dürfte in seiner Angst liegen, ausgeraubt zu werden. Es wird behauptet, daß er ein Vermögen in bar und in Gold in seinem Haus versteckt hat. Ich habe keine Ahnung, ob das stimmt. Ich würde eher annehmen, daß er seine Wertsachen im Tresor seiner Bank aufbewahrt. Aber in der Stadt glaubt man das allgemein. Diese Gerüchte stammen wohl von den komplizierten Vorkehrungen, die er trifft, um nicht Opfer eines Raubes zu werden. Aber vielleicht muß er ja all diese Vorkehrungen jetzt nur deshalb treffen, weil jeder meint, daß es sich lohnen würde, in sein Haus einzubrechen.«
Er lachte, und ich stimmte ein. »Wie sehen diese Vorkehrungen denn aus?«
»Er empfängt niemanden in seinem Haus. Deshalb ist es ja so eine außergewöhnliche Ehre, die Ihnen da zuteil wird.« Quitregard erhob sich halb aus seinem Stuhl und verbeugte sich scherzhaft vor mir.
Ich begann, diesen jungen Mann wirklich ins Herz zu schließen. »Das Haus bleibt niemals ohne Aufsicht, und er verläßt es nur, um zur Bank zu gehen. Es gibt nur einen Satz Schlüssel, und den trägt er an einer Kette an seinem Körper. Niemand außer ihm hat also einen Schlüssel, nicht einmal seine einzige Bedienstete, eine alte Frau namens Mrs. Bubbosh, die täglich kommt, um sauberzumachen, seine Wäsche zu waschen und ihm sein Essen zu kochen.«
»Wenn sie keinen Schlüssel hat und Mr. Stonex einen Großteil des Tages in der Bank verbringt, wie kommt sie dann hinein und heraus?«
»Eine gute Frage. Das gehört zu den originellsten Angewohnheiten des alten Herrn. Um sieben Uhr läßt er sie herein, und sie macht ihm das Frühstück. Um halb acht verläßt er das Haus – und schließt sie ein.«
»Sie ist den ganzen Tag über eingesperrt?«
»Bis er mittags zum Essen nach Hause kommt. Und alle Fenster haben Läden, die ebenfalls verschlossen sind, so daß sie niemanden hereinlassen kann. Am Nachmittag hat die alte Frau dann ein paar Stunden frei, denn das Abendessen wird von einem Kellner aus einem Gasthaus in der Nähe gebracht. Es wird pünktlich Schlag vier Uhr geliefert. Er öffnet seine Tür nur bei diesen Gelegenheiten, um sieben, um vier und um sechs, wenn Mrs. Bubbosh wiederkommt und er nochmals zur Bank geht. Um neun Uhr kehrt er zum Nachtessen nach Hause zurück, und sie geht heim.«
»Als ich ihn gestern traf, sprach er auch von seinem Abendessen. Ich bilde mir ein, er sagte, daß er darauf warte. Aber es muß viel später gewesen sein als vier, denn ich bin est um Viertel nach vier von hier weggegangen, als Ihr Kollege die Bibliothek schloß.«
Quitregard lächelte. »Dann müssen Sie ihn wohl mißverstanden haben. Ich kann Ihnen versichern, daß jedes Abweichen von seinem gewohnten Tagesablauf sofort zum Stadtgespräch würde.«
»Diese strenge Disziplin beeindruckt mich. Ich wüßte zu gern, ob es etwas in seiner Vergangenheit gibt, vor dem er sich zu schützen sucht.«
Der junge Mann sah mich fragend an. »Manchmal versuchen Leute, sich vor schmerzlichen Erinnerungen zu schützen, indem sie ihr Leben in einen festgelegten Stundenplan pressen.« Während der schlimmsten Zeiten in meinem Leben hatte ich mich wie der Kuckuck einer Kuckucksuhr verhalten und war nur für die Mahlzeiten und Vorlesungen von meinem Schreibtisch aufgestanden und aus meinem Arbeitszimmer aufgetaucht. Der junge Bibliothekar konnte sich aber offensichtlich überhaupt nicht vorstellen, was ich meinte, und so ließ ich das Thema fallen. »Wie lange lebt er schon so?«
»Er ist sein ganzes Leben geizig und einsam gewesen, aber mit den jetzigen komplizierten Vorsichtsmaßnahmen hat er erst vor acht oder neun Jahren begonnen.«
»Wenn er keine Verwandten hat, was hat er denn dann mit seinem so sorgfältig gehüteten Reichtum vor?«
»Das würde die ganze Stadt gern wissen.«
»Hat ›die Stadt‹ denn gar keine Vorstellung?« fragte ich lächelnd.
»Die Stadt nimmt an – und hofft natürlich –, daß er sein Vermögen der Stiftung der Kathedrale zur Verwendung für seine ehemalige Schule hinterlassen wird. Seine
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