Die schwarze Kathedrale
durcheinander.«
Ich machte mir nicht die Mühe, ihm meine Frage zu erklären.
»Wie in aller Welt kommst du gerade jetzt darauf?« wollte er wissen.
»Ich hätte nur gerne gewußt, ob das Gerücht geht, daß der Geist hinkt.«
»Der Geist?« schrie er mich fast an. »Burgoynes Geist.«
Er blieb stehen und sah mich an. »Was redest du da?«
Ich war in einer Zwangslage und konnte nichts sagen. Ich konnte ihm ja wohl schwerlich erzählen, was ich in den frühen Morgenstunden nur wenige Meter von der Stelle entfernt, an der wir uns gerade befanden, gesehen hatte. Welchen Grund hätte ich ihm dafür nennen sollen, daß ich mich zu dieser Zeit hier draußen befunden hatte?
Wir gingen schweigend weiter, und als wir vor der Tür seines Hauses ankamen, sagte ich: »Mir ist gerade eingefallen, daß ein Geist gewöhnlich deshalb nicht zur Ruhe kommt, weil sein Körper nicht begraben worden ist. Und deshalb frage ich mich, ob es wirklich Burgoyne ist, der auf dem Domplatz umgeht. Seine Leiche wurde ja begraben. Warum also sollte sein Geist noch hier herumirren?«
»Wovon um Himmels willen redest du da?« fragte Austin und legte den Mantel ab.
»Von der Leiche. Der Leiche des ermordeten Mannes.«
»Des ermordeten Mannes?« stotterte er und sah mich entsetzt an.
»Ich habe gesagt, daß es mich wundert, daß Burgoynes Geist umgeht, weil er ordnungsgemäß begraben worden ist.«
»Lieber Gott, das ist doch nur eine Geschichte. Du wirst diesen Unsinn doch nicht glauben!«
»Man sagt aber auch, daß der Geist eines Menschen umgeht, weil sein Mord nicht gerächt worden ist. Und Burgoynes Tod wurde ja wohl nicht gerächt, weil Gambrill ungestraft entfliehen konnte.«
»Warum in aller Welt hörst du nicht auf, dieses Zeug zu faseln?«
»Nur um überhaupt etwas zu sagen, mein lieber Freund.«
»Wenn das alles ist, was dir einfällt, solltest du besser den Mund halten.«
Er drehte sich um, zog rasch an der Schnur der Gaslampe, um die Flamme größer zu stellen, und ging vor mir her die Treppe hinauf. Ich ergriff eine Kerze, zündete sie an und folgte ihm. Als wir das Wohnzimmer betraten, stellte ich die Kerze auf ein niedriges Tischchen und setzte mich vor den Kamin. Austin ging zum Fenster, wo er sich in die Ecke drückte und den Vorhang zuzog, dann jedoch an einer Seite anhob, so daß er hinausspähen konnte. Ich nahm ein Buch in die Hand und versuchte zu lesen, denn er schien keine Lust zu einem Gespräch zu haben. In den nächsten drei oder vier Minuten zog Austin mehrfach seine Uhr aus der Tasche und starrte auf das Zifferblatt.
Was würde nun mit dem Manuskript geschehen, fragte ich mich. Obwohl die Ehre, es entdeckt zu haben, mir zufiel, würde ich nicht zwangsläufig auch mit der Veröffentlichung betraut werden. Vermutlich würde Dr. Locard entscheiden, was damit geschehen sollte. Konnte ich den Gedanken ertragen, daß es einem unwissenden Stümper in die Hände fallen könnte, oder, was noch schlimmer war, einem Mann, der entschlossen war, seine Bedeutung herabzusetzen? Vielleicht sogar Scuttard? Beim raschen Überfliegen war mir klargeworden, daß es sehr leicht fehlinterpretiert werden konnte.
Und dann durchlebte ich den vielleicht schändlichsten Augenblick meines Lebens. Mir fiel ein, daß niemand wissen konnte, daß ich das Manuskript gefunden hatte, denn ich hatte es ja dorthin zurückgelegt, wo es zwei Jahrhunderte lang geschlummert hatte. Oder, besser gesagt, niemand konnte mir nachweisen, daß ich es gerade dort gefunden hatte. Es wäre also die einfachste Sache der Welt zu behaupten, ich hätte es zwischen Pepperdines Papieren in meinem eigenen College entdeckt. Es gab keinen Grund, warum er es nicht von der Bibliothek des Domkapitels von Thurchester gekauft haben sollte. In diesem Fall würde das Schicksal des Manuskripts ganz und gar in meinen Händen liegen. Aber was dachte ich da? Einen Augenblick hatte ich die wahnwitzige Vorstellung, wie ich das Manuskript aus der Bibliothek schmuggeln würde. Undenkbar. Absolut unvorstellbar. Damit würde ich tiefer sinken als Scuttard. Und außerdem würde Dr. Locard, dem ja bekannt war, daß ich gehofft hatte, es in seiner Bibliothek zu finden, sofort wissen, was ich getan hatte.
»Wir müssen gehen!« rief Austin plötzlich.
Zu meinem Erstaunen rannte er aus dem Zimmer und die Treppe hinunter, warf sich seinen Mantel über und stand schon ungeduldig wartend an der Tür, während ich vorsichtig die schlecht beleuchtete Treppe hinunterstieg.
Wir gingen den
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