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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
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ihn auf.
    Ich blätterte ihn rasch durch und sah, daß für jeden Rechtsfall vermutlich vom Gerichtssekretär ein kurzer Bericht über die Anklage, die Zeugenaussagen und das Urteil des Kanzlers zusammengestellt worden war. Ich fand das Jahr 1615, das, wie ich annahm, der frühestmögliche Zeitpunkt war, zu dem der Unfall stattgefunden haben konnte, und begann, die folgenden Protokolle mit mehr Sorgfalt zu lesen. Dann, unter dem Datum 1625, fand ich, was ich suchte: Alice Limbrick, Hinterbliebene des verstorbenen stellvertretenden Steinmetzen der Kathedrale, hatte Anzeige gegen John Gambrill erstattet, weil er »durch Fahrlässigkeit oder bösen Willen« den Tod ihres Mannes, Robert Limbrick, verschuldet habe. Sie behauptete, die beiden hätten sich gestritten, da Gambrill den Wunsch gehabt habe, selbst das Amt des Steinmetzen der Kathedrale zu übernehmen, das jedoch ihrem Mann versprochen worden sei; deshalb habe er ihren Mann grundlos bezichtigt, das Domkapitel betrogen und seine Mitarbeiter gefährdet zu haben, indem er Holz von schlechter Qualität als Stützbalken verwendet habe.
    Es folgte eine kurze Schilderung des Unfalls durch zwei Arbeiter, die ihn mit angesehen hatten, sowie von Gambrill selbst. Vermutlich waren die Aussagen der drei Männer gleichlautend gewesen, denn der Sekretär hatte keine Unterscheidung zwischen ihnen gemacht. Gambrill und Limbrick hatten am Gewölbe des Turms über der Vierung gearbeitet, als das Unglück geschah:
    Sie waren damit beschäftigt, mit Hilfe ihrer Erfindung behauene Steine hochzuziehen, als ein Knoten des Seils sich löste, John Gambrill den Halt verlor und stürzte – zum Verderben von Robert Limbrick, der sich in der Höhe befand und dadurch schrecklich verletzt wurde, wobei seine Knochen an hundert Stellen gebrochen wurden.
    Der Bericht war seltsam unverständlich, aber Gambrills Fall mußte auf irgendeine Weise den Sturz Limbricks verursacht haben.
    Der Kanzler war zu dem Ergebnis gekommen, daß Gambrill keine Schuld traf. Der Sekretär berichtete jedoch, daß die Witwe sich mit diesem Urteil nicht abfinden wollte und daß Gambrill auf Vermittlung des Kanzlers schließlich angeboten habe, den Streit dadurch beizulegen, daß er ihren ältesten Sohn Thomas, der damals gerade zwölf Jahre alt war, als Lehrling aufnahm, ohne Lehrgeld zu verlangen.
    Mir fiel augenblicklich die Ähnlichkeit mit der Formulierung auf der Gedenktafel auf. Besonders das Wort »Erfindung«, das sowohl in diesem Bericht als auch in der Inschrift auftauchte, gab mir zu denken, und eine Idee begann sich in meinem Kopf zu formen. Dieses Wort konnte, so wie es in der Inschrift gebraucht worden war, drei verschiedene Bedeutungen haben: eine falsche Behauptung, eine Intrige oder eine Maschine. In dem Protokoll war eindeutig von einem mechanischen Hilfsmittel die Rede, während die Inschrift mit ihrer Zeile von den »Schuldigen, die durch ihre eigene Erfindung vernichtet werden« sehr viel geheimnisvoller war.
    Damit endete das Protokoll. Ich blätterte die Seite um, um sicherzugehen, daß nichts mehr folgte, und stieß dabei auf ein Blatt, das nicht fest in den Band eingebunden, sondern nur lose eingelegt war. Ich starrte es mehrere Sekunden lang an, bevor mir klar wurde, daß es sich um ein Foliomanuskript aus einer sehr viel früheren Periode handelte, vielleicht aus dem elften Jahrhundert, wie ich aus der ziemlich uneleganten, frühgotischen Schrift schloß. Ich entzifferte die ersten Worte – Quia olint rex martyrusque amici dilectissimi fuissent – und mein Herz begann schneller zu schlagen. Hastig las ich weiter und erkannte, wie ich vermutet hatte, die Geschichte der Belagerung von Thurchester und des Martyriums des heiligen Wulflac. Mit mir selbst kaum glaublicher Ruhe sagte ich mir, daß ich gefunden hatte, wonach ich suchte: den Teil einer frühen Version von Grimbalds ›Leben‹. Meine Auffassung wurde bestätigt. Das Werk hatte tatsächlich existiert, bevor Leofranc es in die Finger bekommen hatte.
    Seit mehr als zweihundert Jahren hatte niemand mehr dieses Manuskript in der Hand gehalten. Plötzlich wurde mir bewußt, daß das Blatt deshalb an dieser Stelle lag, weil Pepperdine in diesem Band von Protokollen gelesen hatte, nachdem er zufällig auf das gestoßen war, was ich für mich bereits »das Grimbald-Manuskript« nannte. Er hatte es einfach dort gelassen, wo er es gefunden hatte, weil er sich so wenig für »das Zeitalter der Dunkelheit vor der Eroberung« interessiert hatte.

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