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Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
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Er hatte in den Kanzleigerichtsprotokollen geblättert, weil er, ebenso wie ich, von der Geschichte von Burgoyne und Freeth fasziniert war. Auch er mußte auf die Idee gekommen sein, daß der Tod des Schatzmeisters in irgendeinem Zusammenhang mit dem früheren Leben seines angeblichen Mörders stehen müßte, und als guter Historiker hatte er die vorhandenen Quellen konsultiert. Genau das hatte Dr. Sheldrick jedoch offenbar verabsäumt und dadurch die Chance verpaßt, Dr. Locard eins auszuwischen.
    In diesem Moment hörte ich jemanden die Treppe heraufrumpeln, und ohne nachzudenken schloß ich den Band mitsamt dem Manuskript und schob ihn wieder in das Regal zurück.
    Der junge Pomerance kam hereingestürmt, um mir zu sagen, daß er die Bibliothek gleich abschließen würde. Ich wandte mich um, folgte ihm ohne nachzudenken und plauderte mit ihm, während meine Gedanken ganz woanders waren. Warum hatte ich das Manuskript versteckt? Hätte ich das auch getan, wenn es Dr. Locard oder Quitregard gewesen wäre, der heraufkam? Warum hatte ich Pomerance nicht entgegengerufen, ich hätte gefunden, was ich gesucht hätte, und ihn aufgefordert, Dr. Locard zu holen? Vielleicht hatte das Manuskript einfach zu lange im Verborgenen geschlummert, als daß man es ohne nachzudenken und ganz unzeremoniell ans Tageslicht befördern konnte. Oder hatte ich doch noch ein anderes Motiv, dessen ich mir nicht bewußt war?
    Ich verließ die Bibliothek wie in Trance – Gott sei Dank ohne Dr. Locard oder Quitregard zu begegnen.

Donnerstag nachmittag
     
    Als ich auf den dunklen Domplatz hinaustrat und ziellos drauflosstapfte, ohne zu wissen wohin, kam aus dem Schatten neben dem Eingang jemand auf mich zu. Es war Austin. Ich hatte vollkommen vergessen, daß wir miteinander verabredet waren.
    Sollte ich ihm von meiner Entdeckung erzählen? Aus irgendeinem Grund beschloß ich, es nicht zu tun. Er war blaß und wirkte nervös.
    Wir begrüßten uns mit ein paar belanglosen Floskeln, und ich ging neben ihm her um den Domplatz herum. Ich bewegte mich mechanisch, denn es wollte mir einfach nicht einfallen, wohin wir wollten und warum er mich abgeholt hatte. Wir schwiegen beide, denn Austin war ebenso in Gedanken versunken wie ich. Ich suchte krampfhaft nach etwas, was ich sagen könnte, aber verglichen mit meiner Entdeckung erschien mir alles andere bedeutungslos. Irgendwie mußte ich den Abend und die lange Nacht überstehen, bis die Bibliothek am Morgen wieder geöffnet würde. Welch ein Pech, daß sie nur donnerstags früher aufmachte. Ich würde mich also bis um halb neun gedulden müssen.
    Wir gingen schweigend ganz um die Kathedrale herum. Plötzlich rief Austin aus: »Wir sind zu früh dran. Er ist noch nicht bereit, uns zu empfangen.«
    Ich mußte mich mit größter Willensanstrengung zwingen, darüber nachzudenken, wovon er eigentlich redete. Ich stellte fest, daß wir an der Hintertür des neuen Dekanats standen, und dann fiel es mir plötzlich wieder ein: Wir waren ja zum Tee bei Mr. Stonex eingeladen!
    Ich zog meine Uhr aus der Tasche und studierte das Zifferblatt im Licht einer Gaslaterne. »Im Gegenteil. Der alte Herr hat halb fünf gesagt, und jetzt ist es genau halb fünf.«
    »Er ist trotzdem noch nicht soweit. Gehen wir noch ein paar Minuten zu mir nach Hause«, erwiderte Austin und eilte bereits voraus.
    Überrascht, aber unfähig, meine Gedanken zu ordnen, trottete ich weiter neben ihm her um die Kathedrale herum. Es wurde bereits dunkel, und wir begegneten niemandem. Ich dachte daran, wie pünktlich der alte Mann nach Quitregards Aussage war, und fühlte mich zunehmend irritiert. Wir gingen am Kapitelhaus vorbei, durch dessen Fenster ein trüber Schein fiel und dunkle Schatten zwischen den Strebepfeilern hervorrief, als habe sich dort jemand verborgen. Aus dem Licht, dem gedämpften Klang harmonischer Stimmen und eines Klaviers schloß ich, daß der Chor gerade übte. Als wir um die Ecke des Querschiffs bogen, fiel mir ein, daß dies die Stelle war, an der in der vergangenen Nacht die Erscheinung gestanden hatte, und ich fragte: »Hinkt er?«
    Austin zuckte zusammen und drehte sich erschrocken zu mir um. »Warum fragst du?«
    »Ach, nur weil seine Geschichte mich fasziniert.«
    »Seine Geschichte? Von wem redest du denn überhaupt?«
    »Von Burgoyne. Hinkt sein Geist?«
    Er sah mir forschend ins Gesicht. »Burgoyne hinkte nicht«, erklärte er fast ärgerlich. »Gambrill war derjenige, der lahm war. Du bringst die beiden

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