Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die schwarze Kathedrale

Die schwarze Kathedrale

Titel: Die schwarze Kathedrale Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Palliser
Vom Netzwerk:
worden.«
    Ich hätte ihn am liebsten ausgequetscht. Welche Vorwürfe waren gegen Dr. Sheldrick erhoben worden? Und warum war er, wie es den Anschein hatte, gezwungen worden, von seinem Amt zurückzutreten, wenn man ihm nichts anderes vorwerfen konnte, als daß er in der Überwachung des Schulleiters zu nachlässig gewesen war? Und bestand hier ein Zusammenhang zu dem mysteriösen Diebstahl in seinem Haus am Dienstag abend? Aber es war offensichtlich, daß ich den jungen Mann in eine zunehmend peinliche Situation brachte. Deshalb gestattete ich mir nur noch eine sorgfältig formulierte Frage: »War es in erster Linie Dr. Locard, der darauf bestand, daß das Domkapitel Maßnahmen ergriff?«
    Er lächelte. »Dr. Locard hat die für ihn charakteristische Entschlossenheit bei der Erfüllung seiner Pflichten an den Tag gelegt.«
    »Ich kann mir vorstellen, daß er außerordentlich resolut ist«, meinte ich. »Und ich glaube, daß er eine ziemlich skeptische Vorstellung von der menschlichen Natur hat.«
    »Vielleicht manchmal etwas zu skeptisch.« Er hielt inne und sah mich nervös an. »Wenn ich vollkommen offen mit Ihnen reden und mich auf Ihre Diskretion verlassen darf …« Er brach ab.
    »Sie können sich voll und ganz auf mich verlassen«, erwiderte ich.
    »Ich glaube, daß Dr. Locard dazu neigt, die Dinge überkompliziert zu sehen, ganz besonders die Motive anderer Leute.« Er schwieg einen Moment lang und sagte dann vorsichtig: »Als Wissenschaftler ist er deshalb ein wenig kämpferisch. Bei allem Respekt vor ihm, bin ich mir zum Beispiel nicht sicher, daß ich seiner Interpretation von Pepperdines Brief zustimmen kann.«
    »Wirklich? Sie sind nicht der Meinung, daß Pepperdine versucht hat, Bullivant in die Irre zu führen?«
    »Ich glaube, daß er unabsichtlich auf den Keller hindeutete, weil das, was er schrieb, vielleicht ein wenig mißverständlich war.«
    »Und wo hat er Ihrer Meinung nach das Manuskript gefunden?«
    »Im obersten Stockwerk.«
    »Aber Sie haben doch schon fast alle Manuskripte, die sich dort befinden, katalogisiert.«
    »Fast alle. Aber falls es sich herausstellen sollte, daß es sich nicht unter den Manuskripten befindet, die noch nicht gesichtet sind, würden Sie auch nicht viel verlieren. Denn wenn es wirklich im Keller ist, werden Sie es in den nächsten beiden Tagen ganz bestimmt nicht finden, es sei denn durch einen ausgesprochenen Zufall.«
    Seine Logik war unanfechtbar. Ich fragte mich, ob Dr. Locard mich wirklich mit Absicht auf die falsche Fährte gelockt hatte, und dann wurde mir klar, daß der junge Mann offensichtlich einen solchen Verdacht hegte. »Sie haben mir einen ausgezeichneten Rat gegeben. Ich bin Ihnen überaus dankbar.«
    Er konnte seine Freude nicht verbergen und bestand darauf, mich ins obere Stockwerk zu begleiten. Er zeigte mir, in welchen Regalen sich die unkatalogisierten Manuskripte befanden, und ich wußte sofort, daß ich sie in zwei oder drei Tagen durchschauen konnte. Es war um so vieles angenehmer hier oben: ohne Staub, hell und sauber und erheblich wärmer. Meine Arbeitsbedingungen hatten sich ebenso drastisch verändert wie meine Aussicht auf Erfolg.
    Ich begann, die schweren Bände gebundener Manuskripte von den Regalen zu wuchten, auf den Tisch zu legen und durchzublättern. Nach zwei Stunden hatte ich vier davon durchgesehen, und das lange Sitzen begann mich zu ermüden. Ich stand auf und ging um den Tisch herum, um mir die Beine ein wenig zu vertreten. Als ich meinen Blick über die bereits katalogisierten Bücher schweifen ließ, fielen mir drei große Folioanten auf, die ganz oben im Regal standen. Ich kletterte auf einen Stuhl. Auf den Buchrücken stand in einer für das späte sechzehnte Jahrhundert charakteristischen Handschrift geschrieben: »Protokolle des Kanzleigerichts der Domfreiheit von St. John.« Darunter befanden sich die jeweils zugehörigen Jahreszahlen: 1354-1481, 1482-1594 und 1595-1651. Sie mußten sich auf den seit langem aufgelösten Gerichtshof beziehen – das Äquivalent zum städtischen Gerichtshof –, der die Rechtsprechung innerhalb der Domfreiheit wahrgenommen hatte. Ich überlegte, ob ich darin vielleicht einen Hinweis auf den Unfall finden würde, bei dem Limbricks Vater ums Leben gekommen und Gambrill verletzt worden war. In der Hoffnung, meine Neugier befriedigen zu können und mir bei meiner Arbeit eine kurze Verschnaufpause zu verschaffen, nahm ich den dritten Band aus dem Regal, legte ihn auf den Tisch und schlug

Weitere Kostenlose Bücher