Die schwarze Kathedrale
bemerkte, daß ich mich sehr unhöflich und offensichtlich überrascht in dem Zimmer umsah, erklärte er: »Ich habe nach etwas gesucht. Nach einem Dokument. Ich wollte es Ihnen zeigen.« Dann wandte er sich an Austin und sagte: »Ich habe es jedoch noch nicht gefunden.«
»Sie haben es nicht gefunden?« wiederholte Austin.
Der alte Herr lächelte. »Es ist äußerst frustrierend. Aber bitte, setzen Sie sich doch.«
»Aber Sie müssen es finden!« rief Austin aus. »Das hoffe ich sehr.«
Wir setzten uns um den Tisch herum, und ich erkundigte mich: »Darf ich fragen, worum es sich handelt?«
»Das wollte ich Ihnen gerade erzählen«, antwortete er, und ich sah, daß Austin ihm einen überraschten Blick zuwarf.
»Es ist eine Beschreibung von Freeths Tod, die etwa fünfzig Jahre nach den damaligen Ereignissen niedergeschrieben wurde«, sagte Mr. Stonex. »Es gab einen alten Bediensteten im Haus, der damals Küchenjunge in Freeths Haushalt gewesen war. Mein Großvater interessierte sich als junger Mann für die Geschichte und schrieb den Bericht des alten Knaben wortwörtlich nieder, kurz bevor dieser starb.«
»Dieses Dokument würde ich natürlich brennend gerne sehen«, antwortete ich und sah mich in dem Chaos um, das Mr. Stonex angerichtet hatte. »Aber Sie hätten sich wirklich keine solche Mühe machen sollen.«
»Ich hätte nicht gedacht, daß ich das ganze Haus würde auf den Kopf stellen müssen, denn ich war überzeugt, daß es sich bei meinen amtlichen Papieren befindet«, sagte er mehr zu Austin als zu mir. »Aber wie sich herausstellte, war das ein Irrtum.«
»Was meinen Sie denn, wo es sonst sein könnte?« wollte Austin wissen. Ich war überrascht über die Dringlichkeit in seinem Tonfall, denn ich hatte nicht angenommen, daß ihm die Freeth-Geschichte derart wichtig sein könnte.
Der alte Mann drehte sich halb um und deutete auf die Schachteln und Papiere, die sich auf der Kommode stapelten. »Ganz sicher zwischen diesen Papieren. Ich habe alle Schachteln mit Dokumenten aus dem ganzen Haus hierhergebracht, und ich werde sie durchsehen, während wir unseren Tee einnehmen. Übrigens, bitte bedienen Sie sich. Ich habe gerade erst gegessen und möchte deshalb nichts zu mir nehmen.«
Ich folgte seiner Einladung und nahm mir Brot und Butter. Austin schien keinen Hunger zu haben, denn er griff nicht zu.
Unser Gastgeber durchquerte den Raum und goß Tee in einer großen Kanne auf, die neben dem Herd stand. Dabei redete er ununterbrochen weiter über die Schulter mit uns. »Den größten Teil der Geschichte habe ich auch ohne den schriftlichen Bericht im Kopf, denn mein Bruder und ich haben ein Spiel daraus gemacht.« Er hielt inne und sagte dann schnell: »Und meine Schwester natürlich auch.« Er drehte sich um und wandte sich an mich: »Sie wissen, daß ich in diesem Haus aufgewachsen bin?«
»Für ein Kind muß das wunderbar gewesen sein«, entgegnete ich.
»Es gibt so viele Gänge und dunkle Ecken, wo wir uns verbergen konnten, daß wir uns ausgeklügelte Versteckspiele einfallen ließen, die Stunden dauerten. Und wie wir die Erwachsenen geplagt haben, indem wir uns verbargen und sie belauschten oder plötzlich ansprangen, wenn sie es am wenigsten erwarteten.« Er lachte. »Wir haben uns mit Begeisterung verkleidet, mit Schwertern, Umhängen, Bärten. Darin war ich großartig. Und dann haben wir berühmte Szenen aus der Geschichte nachgespielt. Die Hinrichtung der Maria Stuart, die Verbrennung der Jungfrau von Orleans. Wir waren blutrünstige kleine Wilde – und eine unserer Lieblingsszenen war der Tod des Dekans Freeth.«
Ich lächelte. »Wie haben Sie das gemacht?«
Er stellte die Teekanne auf den Tisch und erzählte: »Unser Text war die Geschichte, die von dem Küchenjungen überliefert war, und wir spielten sie mit verteilten Rollen. Ich selbst stellte am liebsten den Offizier dar, den Kommandeur der Garnison. Er ist der eigentliche Held der ganzen Geschichte.«
Hatte ich mich schon über den Zustand der Wohnküche gewundert, so war ich von der Liebenswürdigkeit unseres Gastgebers noch mehr überrascht. Der alte Herr erwies sich als noch verschiedener von Quitregards Beschreibung, als er es schon bei unserer ersten Begegnung gewesen war. Es traf wohl wirklich zu, daß er sich Fremden gegenüber sehr viel verbindlicher verhielt als gegenüber seinen Mitbürgern. Andererseits war auch das unwahrscheinlich, weil er sich Austin gegenüber so freundschaftlich betrug, und dieser lebte
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