Die schwarze Schatulle
schon nicht mehr auf Hilfe von ihr. Aber sie sagte: »Ich halte den Mund, versprochen. Und hör mal, Schabi, ich muss nach Hause, mein Großvater will dabei sein, wenn der Gips abkommt.«
Ich sagte nichts, ich schaute nur zu Boden und hörte sie sagen: »Aber ich ruf dich an, wenn ich wieder zurück bin, dann kannst du zu mir kommen. Es ist ja nicht weit. Und dann schreiben wir den Brief an Herrn Sefardi und reden weiter über Benji.«
Ich fragte nicht, wann sie anrufen würde und gab ihr auch nicht meine Telefonnummer. Erstens fragte sie nicht danach und zweitens wusste ich, dass es schon nichts mehr helfen würde. Wenn ihr Gips ab wäre, würde sie überhaupt vergessen, dass es mich gab.
Als ich nach Hause kam, stellte ich fest, dass ich keinen Schlüssel hatte. Jeden Montag arbeitet meine Mutter länger und mein Vater war auch nicht da, er war zur Rentenkasse gegangen. Ich klopfte an die Tür und hoffte, meine Großmutter würde mich vielleicht doch hören. Aber wie sollte sie? Sogar wenn sie nicht taub gewesen wäre, hätte der Krach vom Fernseher jedes Geräusch unhörbar gemacht. Ich ging um das Haus herum. Alle Fenster waren geschlossen, denn meine Großmutter fürchtet sich gleichermaßen vor Einbrechern und vor Zugwind. Nur das Badezimmerfenster war offen, aber das ist sehr klein. Erst versuchte ich, durch das Fenster zu schreien, aber sie hörte mich nicht. Wie hätte sie mich auch hören können? In der ganzen Straße war nur die laute Stimme aus einer spanischen Serie zu hören, die sie guckte. Ich kletterte an der unebenen Wand hoch und wurde vom Rosenstock zerkratzt, dem ich auch noch zwei Zweige abbrach. Schließlich zwängte ich mich durch das enge Badezimmerfenster, für das ich wirklich schon zu groß war. Meine Großmutter merkte es nicht mal, als ich ins Wohnzimmer kam, jedenfalls bis ich mich vor den Fernseher stellte. Sie sah mich, griff sich an den Hals, als würge sie etwas und schrie: »Was ist das?« Als würde sie einen Geist sehen.
Ich schaute auf den Bildschirm und sah zwei Frauen und einen Mann. Die eine Frau, die mit den roten Locken, schrie die andere an, und der Mann, der glänzende Haare hatte und einen feinen Anzug trug, versuchte sie zu beruhigen. Meine Großmutter hatte vor sich auf dem Tisch eine Schüssel mit roten Linsen stehen, daneben eine Schale mit Steinchen und grauen Linsen, die sie schon herausgelesen hatte. Ich stellte den Fernseher leiser und teilte ihr schreiend mit, dass ich durch das Badezimmerfenster hereingekommen sei, weil sie mich nicht gehört habe.
Sie legte sich die Hand aufs Herz und auf dem ganzen Weg zum Badezimmer zeterte sie: »Luft, Luft, die ganze Zeit sagt sie, hier braucht man Luft.«
Ich wusste, dass sie meine Mutter meinte, die nicht erlaubt, auch noch das Badezimmerfenster zu schließen. Vom Badezimmer lief sie mir in die Küche nach. Nun schrie sie schon nicht mehr, sie fragte nur, ob ich etwas gegessen hätte. Ich sagte Nein, aber ich hätte auch keinen Hunger. Die Wahrheit ist, dass ich entsetzlichen Hunger hatte, aber nicht auf Linsensuppe oder so was. Sondern auf Weißbrot mit Schokoladenaufstrich. Ich schmierte mir vier Scheiben Brot mit Margarine und Schokocreme und schmuggelte sie in mein Zimmer. Aber schon nach dem ersten verging mir der Appetit. Nicht dass ich satt gewesen wäre, aber ich konnte einfach nicht mehr an Essen denken. Ich bückte mich und suchte unter dem Bett nach meiner Schatulle, obwohl ich genau wusste, dass sie nicht im Haus war. Schließlich hatte ich sie mit in die Schule genommen. Trotzdem suchte ich auch im Schlafzimmer meiner Eltern, sogar unter ihrem Bett und im Kleiderschrank. Überall. Schließlich setzte ich mich enttäuscht auf ihr Bett, weit weg vom Fernsehlärm, und rief Benji an.
Seine Mutter nahm ab. Erst nachdem ich zweimal gesagt hatte, wer ich war, antwortete sie: »Ach so, Schabi, guten Tag.« Benji sei draußen, sagte sie, er würde sich später bei mir melden. Jetzt wartete ich also schon auf zwei Anrufe und hing hier fest. Ich konnte noch nicht mal hinausgehen und ein paar Bälle werfen, denn Benji oder Joli konnten ja anrufen.
Um fünf hatte noch immer niemand angerufen, auch nicht um halb sechs. Inzwischen saß ich mit meiner Großmutter vor dem Fernseher und schaute mit ihr »Die Reichen und die Schönen« an. Sie klärte mich auf, wie böse die eine war, die Blonde, die Schwarze hingegen war gut, aber dumm, sie verstand die bösen Pläne der Bösen einfach nicht. Die Zeit verging so
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