Die schwarze Schatulle
nichts mehr gekümmert. So ist das manchmal. Wenn ich schlecht gelaunt bin, wie ich es an diesem Morgen war, fühle ich mich wie ein Mensch, der ein Gewirr von Fäden in den Fingern hält, wie Schnüre von einem Drachen, den er aber nicht in die Luft bekommt. Und selbst wenn er weiß, dass der Drache gleich in die Luft steigen und verschwinden wird, bleibt er gleichgültig. Gleichmütig.
Bevor es zum Ende der zweiten Stunde klingelte, wurde an die Tür geklopft. Tamar, die Erziehungsberaterin, machte auf, entschuldigte sich für die Störung und bat um die Erlaubnis, mich kurz hinauszurufen. Herr Sefardi sagte: »Bitte, er ist ohnehin nicht anwesend.«
Ich ging hinaus. Auf dem Flur stand Bruria, Benjis Klassenlehrerin. Mein Herz fing wild an zu klopfen, wie eine Trommel unter dem Hemd. Ich dachte, Benji hätte etwas Schlimmes gemacht oder es wäre ihm was Schlimmes passiert und ich wäre schuld dran. Nicht weil er mich »traitor« genannt hatte, sondern weil ich die Verantwortung für ihn hatte. Aber es stellte sich heraus, dass in den dritten Klassen heute ein landesweiter Lesetest stattfand und Benji wieder nicht zum Unterricht erschienen war. Seine Klassenlehrerin hatte bei ihm zu Hause angerufen, um zu fragen, ob er krank sei, aber niemand hatte sich gemeldet.
»Das geht schon seit zwei Tagen so«, sagte sie, »seit er mitten im Unterricht weggelaufen ist.« Sie schaute mich an, als wüsste ich den Grund. »Ihr habt eine gute Beziehung, nicht wahr? Vielleicht weißt du ja, ob er krank ist?«
Ich musste gut überlegen, was ich antwortete, denn sie sollte nicht erfahren, dass zwischen mir und Benji etwas nicht in Ordnung war. Andrerseits machte ich mir Sorgen um ihn, weiß der Himmel, was ihm passiert war. Einen Moment lang dachte ich, dass dieser landesweite Test vielleicht der Grund für sein Fehlen war, er beherrschte Hebräisch noch nicht so gut, aber ich wusste, dass es nicht stimmte. Der Grund, weshalb er nicht in die Schule gekommen war, hatte etwas mit den blauen Flecken und den Striemen zu tun, die ich auf seinen Beinen gesehen hatte, und die wiederum hingen mit dem Zettel und dem Totenkopf darauf zusammen. Vielleicht gab es ja noch andere Dinge, noch schlimmere. Als hätte jemand beschlossen, das Mörderspiel ernster zu nehmen, als es gemeint war, und das ausgerechnet bei Benji. Auf einmal tat es mir Leid, dass ich ihm den Zettel nicht abgenommen hatte. Ich war plötzlich nicht mehr sicher, ob in dem Rot wirklich goldene Linien waren, wie bei dem Stift aus meiner Schatulle. Und wenn es wirklich dieses Goldrot war und der, der mir die Schatulle geklaut hatte, auch Benjis Peiniger war, wer konnte es dann sein?
Wenn jemand ihn wirklich misshandelte, dann war das ein Problem, das ich nicht allein lösen konnte. So etwas musste ich einem Erwachsenen sagen, da musste jemand beteiligt sein, der Autorität besaß. Eine ganze Stunde lang hatte Tamar uns mal erklärt, was man tun muss, wenn Erwachsene – selbst wenn es sich um die eigenen Eltern handelt – ein Kind misshandeln. Mindestens dreimal hatte sie gesagt, man müsse sich in diesem Fall unbedingt an einen Erwachsenen wenden, zu dem man Vertrauen habe. Man müsse ihm alles erzählen und ihm die Verantwortung übergeben, denn das wäre etwas, was Kinder nicht allein könnten.
Ich dachte an die roten und blauen Flecken und die Striemen, die ich an Benjis Beinen gesehen hatte, und schwieg. Nicht dass ich mit der Sache allein zurechtkommen wollte, sondern weil ich wusste, dass ich davon nichts sagen durfte. Wenn er mich gestern schon »traitor« genannt hatte, was würde er erst dann denken? Ich würde ihn ganz verlieren. Ich hatte das Gefühl, wenn ich jetzt etwas erzählte, wäre das eine Abkehr von Benji. Wir würden nie wieder etwas miteinander zu tun haben.
Ich stand im Flur und kapierte nicht, wie er es schaffte, einen Tag nach dem andern nicht in die Schule zu kommen. Was sagte er seiner Mutter? Es stimmte zwar, dass sie mit ihren Bildern beschäftigt war, aber von Zeit zu Zeit machte sie eine Pause. Das Problem war, dass ihr Haus so groß war. Er konnte morgens einfach weggehen wie normal und dann leise zurückkommen und in sein Zimmer gehen, ohne dass seine Mutter was merkte. So war das bei ihnen, niemand wusste, wer wann wo war.
All diese Gedanken schossen mir durch den Kopf, als ich da mit der Erziehungsberaterin und Benjis Klassenlehrerin im Flur stand. Am Schluss sagte ich, ich hätte in den letzten Tagen nicht mit Benji gesprochen, weil
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