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Die schwarze Schatulle

Die schwarze Schatulle

Titel: Die schwarze Schatulle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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ich so viel zu tun hatte. Und ich versprach, dass ich mich am Nachmittag drum kümmern würde. Dann ging ich in die Klasse zurück.
    Gleich als es klingelte und Herr Sefardi seine Tasche packte, kam Joli zu mir und fragte: »Was war gestern?«
    Ich betrachtete ihre Hand. Sie trug eine Bluse mit langen Ärmeln und man sah nichts. Sie schaute mich an, dann ihre Hand und zog sie schließlich zurück, als könnte ich auch durch den Stoff gucken. »Wie geht’s deiner Hand«, fragte ich.
    Sie schüttelte sie ein wenig und meinte: »Gut, aber sie ist noch immer ziemlich hässlich.« Dann erkundigte sie sich wieder nach Benji.
    »Ich konnte fast nicht einschlafen«, sagte sie. »Ich musste immer an ihn denken und an deine schwarze Schatulle. Eigentlich habe ich darauf gewartet, dass du mich anrufst. Und weil kein Anruf kam, habe ich gedacht, du hast ihn nicht gefunden.«
    Das sagte sie. Und ich, statt an Benji zu denken, hörte sie immer wieder sagen: »Eigentlich habe ich darauf gewartet, dass du mich anrufst.«
    Doch dann erzählte ich ihr so kurz wie möglich von seiner Flucht und den blauen Flecken, von dem Zettel mit dem Totenkopf und dass er nicht mit mir sprechen wollte, als wäre ich schuld an dem, was mit ihm passierte. Als hätte ich sein Vertrauen missbraucht. Aber von dem Rotgold sagte ich kein Wort, weil ich nicht sicher war. Außerdem dachte ich, dass jemand, der sich noch nie mit Farben beschäftigt hatte, so etwas ohnehin nicht glauben würde. Vielleicht hatte Benji die Farben ja selbst genommen, weil er so wütend auf mich war? »Er hat mich ›traitor‹ genannt«, sagte ich. Und Joli fragte: »Warum? Warum hält er dich für einen Verräter? Was hast du ihm getan?«
    Ich zuckte mit den Schultern und sagte, ich hätte keine Ahnung. Was hätte ich auch verraten sollen? Und wem? Meinte er, weil ich mit Uri Werfen trainierte? Aber Uri hatte es auch schon vorher gegeben. Nein, es klang, als hätte ich jemandem ein Geheimnis verraten, aber was für Geheimnisse hatte Benji überhaupt? Was hätte ich denn erzählen können? Vom Schach und vom Internet? Dass er sich mit Erwachsenen E-Mails schickt, die nicht wissen, dass er ein Kind ist? Ich hatte wirklich keine Ahnung, trotzdem fühlte ich mich schlecht, als würde ich etwas verbergen.
    »Was glaubst du, was ihm passiert ist?«, fragte Joli mit erschrockenem Gesicht. »Glaubst du, dass es was mit dem Mörderspiel zu tun hat? Der Zettel könnte schon dazu passen, aber die blauen Flecken und die Striemen nicht. Bei uns wird nicht geschlagen. Glaubst du, dass seine Eltern was Schlimmes mit ihm machen?«
    Ich verstand, dass ich nicht der Einzige war, der auf solche Gedanken kam. Wenn meine Mutter uns zuhörte, würde sie sagen, wir hätten zu viel ferngesehen und zu viele Dinge mitgekriegt, die nichts für unser Alter sind.
    »Glaubst du denn, dass sie so aussehen?«, fragte Joli.
    Ich dachte lange nach, dann schüttelte ich den Kopf. »Und was ist mit dem Totenkopf? Seine Eltern würden doch keinen Totenkopf mit Blutstropfen auf einen Zettel malen.«
    »Womöglich sind das zwei verschiedene Sachen, den Zettel hat er vielleicht wegen des Mörderspiels bekommen«, meinte Joli. »Die Prügel können was ganz anderes sein.«
    Darauf hatte ich keine Antwort und sie begann, ihr Pausenbrot zu essen. Der Schokoaufstrich beschmutzte ihre Lippen ein bisschen. Nein, er beschmutzte sie nicht, er machte, dass sie komisch aussahen. Im Licht, das durch das Fenster fiel, sah ich den durchsichtigen Flaum auf ihrer Oberlippe. Ich hätte sie gern berührt und ihr mit dem Finger die Schokolade weggewischt.
    »Glaubst du, dass wir mit Tamar sprechen müssen«, fragte Joli und wieder fing ich an zu überlegen. Ich stellte mir das Zimmer der Erziehungsberaterin vor, das nur eine Art Höhle im Keller ist, mit dem gelben Licht und den Bildern, die an den Wänden hängen, und ich meinte ihre Stimme zu hören, die immer etwas Aufdringliches hat. Und da schüttelte ich wieder den Kopf. »Warten wir noch einen Tag«, sagte ich. »Vielleicht ändert sich ja was.«
    »Hast du einen Plan«, fragte Joli. »Oder sagst du das nur so …«
    Ich schwieg. Was hätte ich sagen können?
    »Es geht nicht ohne Plan«, sagte sie. »Ein Plan mit Schritten, die unternommen werden müssen. Und mit Wenns und Danns. Wenn so, dann so.«
    Während sie sprach, hüpften ihre rabenschwarzen Haare um ihr weißes Gesicht. Auf einmal sah sie aus wie das Schneewittchen in jenem Märchen, das mir meine Schwester vorgelesen

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