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Die schwarze Schatulle

Die schwarze Schatulle

Titel: Die schwarze Schatulle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Batya Gur
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wem? Hatte ich Geheimnisse von ihm weitererzählt? Hatte ich mich mit seinen Feinden verbündet? Was meinte er überhaupt? Aber eines war mir klar: Wenn ich der Erziehungsberaterin oder der Direktorin irgendwas erzählen würde, wäre ich in seinen Augen ein ewiger Verräter. Vielleicht gibt es dafür ein eigenes Wort.
    Bevor ich schlafen ging, als meine Mutter schon fast aufgehört hatte, böse und traurig zu sein, fragte ich sie einfach so, ganz allgemein, wie man einem Jungen helfen könnte, von der Gemeinschaft besser akzeptiert zu werden, einem Jungen, der überhaupt nicht beliebt sei, den die anderen in seiner Klasse ärgern und der sich überhaupt nicht helfen lassen wolle. Sie wollte ein Beispiel. Immer will sie Beispiele. Allgemeine Aussagen, meint sie, verbergen normalerweise mehr, als sie enthüllen. Ich überlegte eine ganze Weile, bevor ich sagte: »Angenommen, jemand kommt ihm näher, um ihm zu helfen oder um freundlich zu ihm zu sein, und er spuckt ihn an und tritt nach ihm. Und angenommen, er verhält sich allen Kindern gegenüber so. Und sie wollen schon nicht mehr zu ihm gehen und nichts mehr mit ihm zu tun haben.«
    »Nun«, sagte meine Mutter, »vielleicht sind ihm die anderen Kinder nicht wichtig, vielleicht sind sie ihm egal. Obwohl es schwer zu glauben ist, dass es einem Jungen egal ist, ob er von seiner Klasse akzeptiert wird.«
    »Genau«, sagte ich. »Ich denke, es geht gegen ihn selbst. Und dass er im Grunde ein ganz armer Junge ist.«
    Meine Mutter nickte. »Bestimmt leidet er. Und das ist der Grund für sein Verhalten, das ein Zeichen für eine große Verzweiflung ist. Jedenfalls scheint es mir, als wärst du nicht in der Lage, seine Situation zu ändern.«
    Wenn wir über wichtige Dinge sprechen, bekommt meine Mutter sofort eine feierliche Sprache. Manchmal macht mich das nervös, denn ich hab dann das Gefühl, dass sie mich nicht ganz ernst nimmt und mich sogar ein bisschen verspottet. Aber das stimmt nicht. Sie spricht einfach so, wenn sie sich konzentriert und nachdenkt. Trotzdem fühle ich mich dann unbehaglich.
    »Warum nicht«, fuhr ich auf. »Ich könnte es wenigstens versuchen.«
    »Du willst die Welt verändern, Schabi«, sagte sie. »Aber merke dir, Menschen kann man nicht verändern. Weder sie noch ihr Schicksal. Du willst immer alles verändern. Es wenigstens versuchen. Aber man kann höchstens Dinge in sich selbst verändern, wenn man sich sehr anstrengt. Du kannst also nur dich verändern, und auch das nur ein wenig.«
    Mir wurde kalt, als ich sie so reden hörte. Ich fand das schrecklich. Schrecklich, dass man Menschen nicht ändern kann, denn das bedeutet doch, dass alle immer so bleiben, wie sie sind. Ich wollte mit ihr streiten, wollte sagen, dass sie nicht Recht hatte, ich hatte sogar Beispiele, doch da sagte sie noch etwas Schrecklicheres: »Nicht nur, dass man sie nicht ändern kann. Man darf es auch nicht.«
    Ich erschrak und fragte, was das heißen solle: Man darf es auch nicht.
    »Das kannst du in deinem Alter noch nicht verstehen«, antwortete sie. »Einstweilen musst du dich damit begnügen, dass man nicht von außen in das Schicksal der Menschen eingreifen darf. Es ist wie ein Verbot des Himmels.«

    In den ersten beiden Stunden hatten wir Englisch und ich saß wie versteinert auf meinem Stuhl, sogar ohne zu zeichnen. Bevor ich von Benji die schwarze Schatulle bekam, hatte ich immer mit irgendwelchen Schreibern oder Bleistiften gemalt, aber die Schatulle hat mich anspruchsvoll gemacht. Oder, wie meine Mutter es nennt, eingebildet.
    Zu Beginn der Stunde las Herr Sefardi zweimal laut meinen Entschuldigungsbrief vor der ganzen Klasse und schaute mich an, als wolle er mich fragen, wer mir geholfen hätte. Aber dann ließ er es bleiben. Ich schaute zu Joli, aber sie drehte sich nicht nach mir um, sie schaute geradeaus, als wäre sie taub. Erst nach einer halben Stunde drehte sie sich um und fragte mich, nur mit Lippenbewegungen, was sich mit Benji ergeben hätte. Das heißt, sie sagte nur unhörbar seinen Namen, wollte aber wissen, was mit ihm war. Herr Sefardi, bei dem man sich sonst immer unterhalten kann, ohne dass es ihm auffällt, sagte ausgerechnet diesmal: »Miss Maimon«, und sie wurde rot und schaute wieder nach vorn.
    Der Englischunterricht zog sich ewig hin und war so langweilig, dass ich ihn noch nicht mal ausnützte, um meine Aufgaben für Mathe zu machen. Ich hatte zu nichts Lust. Ich hätte am liebsten alles stehen und liegen gelassen und mich um

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