Die schwarze Witwe: Thriller (German Edition)
sie bei ihm, und er lieferte sie ihnen – natürlich unter Beihilfe eines korrupten Beamten. Wenn seine normalen ›Bezugsquellen‹ nichts Geeignetes anzubieten hatten, verschwanden nach einer solchen Party schon einmal Mädchen aus der Nachbarschaft. Nicht sofort – er wusste, dass dies Aufsehen erregen würde –, sondern nach ein paar Wochen oder sogar Monaten. Manchmal war es eine junge Touristin, die plötzlich verschwand. Offiziell erzählte man den Eltern, dass ihre Töchter im Meer ertrunken oder davongelaufen seien. Ich weiß heute, dass fast alle damaligen Vermissten von meinem Schwager entführt wurden.
Dann machte ich etwas ziemlich Idiotisches. Als mein Mann mir von seiner Entdeckung erzählte, teilte ich meiner Schwester mit, was Alain eigentlich machte. Sie solle ihre Kinder nehmen und ihn sofort verlassen. Sie lachte mich nur an und sagte: ›Er würde doch niemals seine eigenen Kinder verkaufen.‹ Ich starrte sie nur an. Ich konnte einfach nicht glauben, dass sie Bescheid wusste. Zuerst dachte ich, sie hätte mich nicht ganz verstanden. Ich sagte zu ihr: ›Jerusha, er verkauft die Mädchen, denen er angeblich hilft.‹ Sie schaute mich dann so an, wie sie mich immer anschaute, wenn sie anderer Meinung war. Sie senkte den Kopf und funkelte mich an. Dann meinte sie nur, dass Gott diesen Kindern nicht die Eltern genommen hätte, wenn sie unter seinem Schutz stünden. Ich traute meinen eigenen Ohren nicht. Ich wusste nicht, was ich ihr darauf antworten sollte.
Am nächsten Tag tauchte Alain bei mir zu Hause auf. Ich erinnere mich noch daran, als sei es gestern gewesen. Ellen war damals fünfzehn. Es war der Sommer des Jahres 1975. Ellen und ihre Freundin Laney hatten sich gerade im Kino den Weißen Hai angeschaut. Sie trugen Shorts und ärmellose Shirts, saßen im Gras, unterhielten sich und kicherten. Ich war auf der Veranda und las in einer Zeitschrift. Alain kam ganz freundlich auf mich zu. Er bedrohte mich nicht. Er schaute nur zu den beiden hinüber und meinte, wie attraktiv sie doch seien, so richtig reif zum Pflücken.
In diesem Moment lief es mir eiskalt den Rücken herunter. Ich brachte kein einziges Wort heraus. Ich saß nur da und starrte ihn an. Er drehte sich einfach um und ging. An diesem Abend kam mein Mann später als sonst nach Hause. Ich hatte schon Angst, dass sie ihm etwas angetan hatten. Als er schließlich heimkam, teilte ich ihm mit, dass wir die Outer Banks verlassen würden. Mir sei es egal, ob ich für den Rest des Lebens Toiletten reinigen oder hausieren gehen müsste, aber ich würde auf keinen Fall hier bleiben. Er war einverstanden, und wir zogen nach Tennessee. Das war ein richtiger Schritt. Uns ging es dort gut. Earl und ich fanden beide gute Jobs. Nach einer Weile eröffnete er sein eigenes Büro. Bis zum heutigen Tag habe ich meine Schwester nicht mehr wiedergesehen.«
Einige Augenblicke lang saßen alle schweigend da. Carley musterte ihr dünnes Goldkettenarmband und legte dann ihre Hand auf die ihrer Großmutter. Ellen fand als Erste ihre Sprache wieder.
»Ich erinnere mich noch an diesen Umzug. Ich war so wütend auf dich und Vater, dass ihr mich von meiner Schule und meinen Freunden weggerissen habt. Warum habt ihr es mir denn nicht erzählt? Ich habe es nie verstanden, warum wir so Hals über Kopf dort wegziehen mussten.«
»Du warst erst fünfzehn, Ellen. Was hätte ich dir denn sagen sollen?«, entgegnete ihre Mutter. Sie schaute Diane und Kingsley an. »Sie sagten, diese Frau sei aus dem Gefängnis geflohen. Ist sie das?« Sie nahm das Foto in die Hand und betrachtete es aufmerksam. »Sie sieht fast so aus wie meine Schwester. Ist sie einer der Drillinge?«
»Wir glauben, dass es Iris ist«, antwortete Diane.
»Sie sagten, sie sei eine Mörderin?«, fragte Sarah.
»Sie wurde in Georgia wegen Mordes verurteilt und ins Gefängnis gesteckt. Aus dem ist sie vor kurzem entflohen«, sagte Kingsley. »Wir nehmen an, dass ihr Vater sie im Alter von etwa fünfzehn verkauft hat. Was sie danach durchgemacht hat, hat sie wohl zu einer Serienmörderin werden lassen.«
Die Großmutter war sichtlich schockiert. Offen gesagt, fand es Diane erstaunlich, dass sie noch irgendetwas schockieren konnte, was mit ihrer Familie zu tun hatte.
»Arme kleine Iris.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe es meiner Schwester gesagt. Ich habe es ihr gesagt. Sie wollte nicht hören. Dumme, dumme Frau. Sie waren so goldige kleine Mädchen, sie glichen sich aufs
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