Die schwarzen Juwelen 06 - Nacht
du hast sie nie abgeschickt.«
»Nein.«
Er streckte die Hand aus. »Gib sie mir.«
»Oh nein, ich …«
»Gib sie mir. Ich kann dir nicht versprechen, dass er sich darüber freuen oder sie auch nur lesen wird. Aber ich werde sie ihm zeigen.«
Sie machte eine Schublade ihres Sekretärs auf und holte ein mit einem rosenfarbenen Band zugeschnürtes Bündel hervor. »Ein paar Briefe von den Jungen sind auch mit dabei. Vielleicht …«
Er nahm das Bündel und ließ es verschwinden, bevor sie es sich anders überlegen konnte. »Er hat dich geliebt, Sylvia. Das tut er noch immer. Aber er wird nicht zurückkommen.«
»Ich weiß.« Es war ein zitterndes Lächeln, aber immerhin ein Lächeln.
»Tja, am besten sammele ich die pelzigen Kleinen ein und …«
»Nein.« Sylvia schnitt eine Grimasse. »Ich habe dich nicht hergebeten, weil ich über deinen Vater sprechen wollte. Wir müssen uns über deine Mutter unterhalten.«
Daemon betrachtete die Vorderseite der beiden Häuser, dann ging er langsam um die Gebäude, weil er nachsehen wollte, ob alles in gepflegtem Zustand war. Vor vierzehn Jahren hatte Saetan das eine Haus gekauft, damit Tersa ein Zuhause hatte. Daemon hatte das Nachbarhaus für Manny erstanden, die Dienstbotin, die sich um ihn gekümmert hatte, als er als versklavtes Schmuckstück an Dorothea SaDiablos Hof gelebt hatte. Ja, im Grunde hatte Manny ihn aufgezogen, hatte ihn geliebt, war die einzig gute Konstante seiner Kindheit gewesen.
Als er nach Kaeleer ausgewandert war, hatte er Jazen und Manny mitgenommen, da er sie nicht den mitleidlosen Königinnen in Terreille ausliefern wollte. Jazen blieb als sein Kammerdiener bei ihm. Nach ein paar Wochen auf der Burg wollte Manny ihr eigenes Zuhause – und sie wollte sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Er kaufte ihr das Haus neben Tersas, und allmählich wurde Manny zu so
etwas wie der Haushälterin und Köchin von Tersa und Allista, die Tersa derzeit Gesellschaft leistete und dabei lernte, eine Schwarze Witwe zu sein.
Er bog um eine Ecke und blieb stehen. Leise zählte er mit, um zu sehen, wie lange das junge Pärchen, das sich leidenschaftlich umarmte, brauchen würde, um seiner mentalen Signatur und damit seiner Gegenwart gewahr zu werden.
Erst bei zwanzig fuhr der Junge erschrocken auf, und die beiden sprangen auseinander.
Zuerst starrte Daemon das Mädchen an, wobei er seine instinktive Wut bezähmen musste. Sie war sichtlich verlegen, und das lag an dem Umstand, wer sie beim Küssen erwischt hatte, doch er konnte keine Spur des widerlichen Stolzes jener Hexen entdecken, die es genossen, Männer in kompromittierende Situationen zu bringen. Und das schüchterne Lächeln, das sie dem Jungen schenkte, bevor sie aus dem Garten stürmte, ließ ihn so viel von seiner Anspannung verlieren, dass er dem Jungen lockerer entgegentreten konnte. Hierbei handelte es sich nicht um eine Eroberung, sondern um junge Liebe. Höchstwahrscheinlich hätte Manny das Mädchen aus dem Garten verscheucht – nachdem sie dem Pärchen genug Zeit gegeben hätte, noch ein paar heimliche Küsse auszutauschen.
Als er auf den Jungen zuging, fragte er sich, ob Manny inzwischen auch wieder ihrer anderen alten Beschäftigung nachging – die der Dorfkupplerin.
»Prinz Sadi«, stammelte der Jüngling.
Er trug ein ärmelloses Unterhemd, war dreckverschmiert und verschwitzt. Schubkarren, Hacke, Rechen und eine Schaufel lagen in unmittelbarer Nähe. Ohne Zweifel einer der Jugendlichen, die sich ein paar Münzen dazuverdienten, indem sie bei den schwereren Arbeiten im Garten aushalfen.
»Wir haben nur … Ich habe nur …« Verwirrt ließ der Junge den Blick über die Werkzeuge und den Boden schweifen, als erhoffe er sich von dort eine Antwort.
»Das habe ich gemerkt.« Daemon lächelte und trug seine trockene Belustigung offen zur Schau. »Wenn du sie das
nächste Mal in aller Öffentlichkeit küssen möchtest, dann behalte deine Umgebung im Blick. Und versuch es beim nächsten Mal mit ein bisschen weniger Zungeneinsatz. Es schadet nie, wenn das Mädchen mehr will, als man gibt. Besonders unter diesen Umständen.«
Als der Junge ihn ansah, leuchtete schockierte Freude aus seinem Antlitz, weil der Kriegerprinz von Dhemlan – und noch viel wichtiger, Jaenelle Angellines Ehemann – ihm Rat in Liebesdingen gegeben hatte.
Daemon musste ein Seufzen unterdrücken; auf einmal fühlte er sich viel älter, als es noch am Morgen beim Aufwachen der Fall gewesen war. Er trat an
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