Die schwarzen Juwelen 06 - Nacht
Schloss drehen, um einen Überraschungsangriff aus dem Gang zu vermeiden, oder sollte sie sie offen lassen, damit sie notfalls schnell fliehen konnte?
»Sperr dich nicht in einer Kiste ein«, murmelte sie. Sie zog scharf den Atem ein, als sie die Jacke auszog. Das Hemd kam als Nächstes dran. Sie ließ beides auf den geschlossenen Toilettendeckel fallen. Dann stützte sie sich mit der Vorderseite ihrer Oberschenkel am Waschbecken ab und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihren Oberkörper im Spiegel betrachten zu können.
Beim Feuer der Hölle! Das Blut quoll zwischen ihrer Haut und dem Schild hervor, sodass sie das Ausmaß des Schadens nicht wirklich erkennen konnte – außerdem ließ sich so nicht sagen, ob die Blutung von alleine aufhören würde, oder ob sie die Wunden versorgen musste.
*Rainier?*, rief sie, als sie sich wieder auf die Füße sinken ließ.
Keine Antwort.
Den Schild zu senken, wäre eine Anwendung der Kunst.
Ihn wiederherzustellen, wäre eine zweite. Ihre Tasche mit Heilvorräten herbeizurufen eine dritte. Dann eine weitere Entscheidung: die Tasche verschwinden lassen und auf diese Weise einen weiteren Ausgang verschließen, oder sie zurücklassen und hoffen, dass sie sie nicht noch einmal benötigte.
Sie konnte Rainier nicht erreichen. Würde er den Gong hören, der anzeigte, dass sie sich der Kunst bedient hatte? Wie viele Ausgänge hatten sie schon verschlossen? Wie viele waren noch übrig?
Wenn es überhaupt jemals welche gegeben hatte.
Es war im Grunde raffiniert. Wenn es sich hierbei um eine Geschichte gehandelt hätte, wäre sie fasziniert gewesen und hätte die Mühe zu schätzen gewusst, die es kostete, das Anwenden von Kunst zu vermeiden. Sie hätte mit Rainier darüber debattiert, auf welche Weise und zu welchem Zeitpunkt man sich der Kunst hätte bedienen sollen.
Doch da es sich nicht um eine Geschichte handelte, würde sie den Bastard finden, der dieses Haus erschaffen hatte, und ihn bei lebendigem Leib häuten, mit nichts als einem stumpfen Kartoffelschäler. Dann würde sie all seine Knochen zu Kieseln zermalmen, wobei sie sich Rückgrat und Gehirn für den Schluss aufheben würde, damit ihm auch ja nichts von der Vorstellung entging. Und dann würde ihn Onkel Saetan in die Finger bekommen!
»Netter Einfall, Süße«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild, »aber zuerst hast du noch ein paar andere Dinge zu erledigen.«
Sie rief ihre Tasche mit den Heilvorräten herbei und fluchte insgeheim, als sie den Gongschlag hörte. Mit der kleinen Schere aus der Tasche schnitt sie beide Ärmel ihres Hemdes ab, dann halbierte sie einen Ärmel. Die Jacke und das Hemd hängte sie an den Knauf der Badezimmertür. Die Tasche mit den Heilutensilien stellte sie auf den Toilettendeckel.
Sie drehte das Wasser im Waschbecken auf und weichte ein Stück Stoff ein. Es gab kein heißes Wasser, und sie würde sich gewiss nicht wegen eines derartig überflüssigen
Luxus der Kunst bedienen. Folglich biss sie in Erwartung des kalten Wassers auf ihrer Haut die Zähne zusammen, als sie den Schutzschild von sich abfallen ließ und das Blut abwusch.
Wieder auf Zehenspitzen betrachtete sie die Wunden, während sie die betreffende Körperpartie reinigte.
Nicht allzu schlimm, entschied sie kurz darauf. Zwei Striemen von den Fingernägeln des Luders liefen über ihre Rippen. Sie waren so tief, dass die Wunden gesäubert und verschlossen werden mussten, aber …
Surreal ließ sich erneut auf die Füße sinken. Die Stirn hatte sie in Falten gelegt. Warum ein doppelter Striemen? Warum hatte die Schwarze Witwe sie nicht mit allen vier Nägeln erwischt, insbesondere mit dem Ringfinger, an dem sich der Schlangenzahn und der Giftsack befanden?
»Nicht vorhanden«, flüsterte Surreal und drückte sich das nasse Tuch auf die Wunden.
Letztes Jahr hatte Hekatah Saetan, als sie ihn gefangen und als Geisel gehalten hatte, den kleinen Finger der linken Hand abgehackt und ihn Jaenelle geschickt.
Es war komisch, wie die Augen aufgehört hatten, den Verlust zu bemerken. Saetan trug nicht länger den Ring des Haushofmeisters an seiner linken Hand, sodass nichts die Aufmerksamkeit auf den fehlenden Finger lenkte. Sie würde jede Wette eingehen, dass ein dazu befragtes Familienmitglied erst einmal eine Minute nachdenken müsste, bevor es sich daran erinnerte, dass der Finger nicht mehr da war.
Der Schwarzen Witwe hatten der kleine Finger und der Ringfinger der rechten Hand gefehlt. Deshalb gab es nur einen Doppelstriemen
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