Die schwarzen Raender der Glut
Leider müsse er Monsieur bitten, sagt der Alpenjäger, das Linge-Memorial zu verlassen, ein offizieller Besuch werde erwartet, was besondere Sicherheitsvorkehrungen notwendig mache.
Berndorf nickt und wendet sich zum Gehen. Sein Blick fällt auf den inneren, abgesperrten Bereich der Hügelkuppe. Mücken tanzen im Sonnenlicht. Die Kuppe ist abgesperrt, weil dort noch immer Hunderte von Toten verschüttet sind.
Der Pfad steigt steil Richtung Südwest an, Laubgebüsch schlägt mit seinen Zweigen Berndorf ins Gesicht, hoch über ihm strecken Fichten ihre zerzausten Kronen dem Westwind
entgegen. Er folgt der Wanderkarte, die genau genug ist, um Höhenlinien aufzuzeigen und auch die Pfade, die von den ausgeschilderten Wanderwegen abzweigen. Einem solchen folgt er jetzt, wenn es denn der ist, den er auf der Karte zu erkennen geglaubt hat.
Welches Ziel verfolgt er? Er weiß es selbst nicht. Nicht genau. Vom Linge-Memorial hatte er zunächst den Weg zurück Richtung Colmar genommen, war dann aber abgebogen und zu dem Wallfahrtsort Trois Épis hochgefahren. Dort hatte er zu Mittag gegessen und entschieden, dass er einen letzten Versuch unternehmen wird. Denn Trois Épis liegt nur wenige Kilometer östlich des Linge, auf dem gleichen Höhenzug wie dieser, und aus Durlewangers Monografie weiß Berndorf, dass die deutsche Artillerie ihre Batterien von Trois Épis aus in Stellung gebracht hatte. Irgendwo auf den Anhöhen über ihm müssen deshalb die Feuerleitstellen gewesen sein, dort, wo sich das Licht des Nachmittags über Krüppelgehölz und dem Gelächter der Tannenhäher ausbreitet.
Er geht langsam, weil sein linkes Bein zu schmerzen beginnt, und er geht vorsichtig. Keinen Ast, keinen Zweig will er abbrechen. Er hört auf die Geräusche des Waldes, aber nichts ist zu hören als sein eigener Atem . . .
Zu seiner Linken ahnt er das Tal und darüber das Massiv, zu dem der Grand Ballon gehört. Also ist er auf der Kammlinie, und das bedeutet, dass er jeden Augenblick auf einen alten Beobachtungsposten der deutschen Artillerie stoßen kann, geschützt hinter dem rötlichen Fels, der sich zwischen dem Laubwald hervordrängt, oder einbetoniert in den Boden.
Misstönend schlägt ein Häher Alarm und stört die mittägliche Ruhe. Berndorf verharrt. Falke oder Habicht? Im wolkenbewegten Himmel ist nichts zu sehen. Ein Störenfried auf dem Boden also, denkt Berndorf, bist du es selbst? Aber der Häher lärmt weiter vorne . . .
Berndorf beschließt, nicht auf der Kammlinie zu bleiben, die Bäume stehen hier zu licht. Behutsam, Schritt für Schritt, schiebt er sich auf den südlichen Abhang zu. Der Abhang ist
so steil, dass er dort kaum gehen kann. Aber in den Abhang hat sich Laubgebüsch gekrallt, das Deckung gibt.
Kies spritzt auf, als der BMW auf dem Vorplatz der Johannes-Grünheim-Akademie zum Stehen gebracht wird. Grassl wird herausgestoßen, er reibt sich den Arm, aber dann packt Shortie auch schon wieder zu und hält ihn fest.
»Du wirst dich hier ganz manierlich aufführen«, sagt der Bursche mit dem Feuermal, von dem Grassl inzwischen weiß, dass er Kai heißt. »Falls wir die Frau Zundt zu Gesicht bekommen, entschuldigst du dich für dein langes Fernbleiben und sagst, nun seist du ja wieder da . . . Ach ja, kondolieren wirst du ihr auch noch. Der Alte ist hinüber, falls du das noch nicht weißt.«
Grassl, dessen rechter Arm weiter in Shorties Griff ist, nickt. Kalt bleiben. Und höflich. Kein unnützer Widerspruch.
Zu dritt gehen sie zum Eingang, voran Kai mit der Stützschiene, dahinter Shortie und Grassl. Der Fahrer, von dem Grassl inzwischen weiß, dass man ihn »Dülle« nennt, bleibt noch bei dem BMW.
In der Tür erscheint, majestätisch in einen schwarzen Umhang gehüllt, die Hohe Frawe und jetzige Witwe Margarethe Zundt und sagt nichts.
Grassl spricht sein tief empfundenes Beileid aus. »Ich hatte noch einen Auftrag Ihres Gatten, dabei bin ich aufgehalten worden . . . als ich die schreckliche Nachricht . . .«
»Ich habe es als sehr enttäuschend empfunden, dass Sie nicht zu seiner Beerdigung gekommen sind«, stellt die Hohe Frawe fest. »Mein Gatte hätte es wohl erwarten dürfen, nach allem, was er für Sie getan hat. Und was wollen Sie jetzt hier? Wir haben Ihr Zimmer geräumt . . .«
»Der Herr Professor hat mit ihm noch einiges zu klären, gnädige Frau«, schaltet sich Kai ein. »Es geht darum, ob alle Hinterlassenschaften Ihres Gatten noch vorhanden sind.«
»Dann klären Sie das«, sagt
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