Die schwarzen Raender der Glut
sein, denkt die Frau in der dritten Reihe. Gleichzeitig mit zwei, wie soll das gehen? Aber sind das Gedanken, die man im Haus des HERRN denken sollte?
Jetzt ist der Prediger auch schon beim Amen, und die Gemeinde singt, dass ihr der HERR ein reines Herz bewahren solle, dann wird still gebetet, die Frau in der dritten Reihe bittet verstohlen – weil es dem Prediger sicher nicht recht ist, dass sie es tut – für den armen Mann, der sich vorige Woche aufgehängt hat, wie sie im Drogeriemarkt erzählt haben, noch immer wird ihr ganz schlecht, wenn sie daran denkt. Es folgen die Abkündigungen, die Jugendgruppe wird in der nächsten Woche für ein Zeltlager im Odenwald sammeln, das Opfer ist auch diesmal für die Mission unter den armen Landsleuten bestimmt, die aus Russland gekommen sind, und am kommenden Sonntag werden sich gleich zwei Paare die ewige Treue geloben, daran sieht man, sagt der Prediger, dass der HERR mit Wohlgefallen auf seine Gemeinde des Wahrhaftigen Wortes blickt. Die dunkelhaarige Frau hört es gerührt, es ist immer schön, wenn die Menschen zusammenfinden, denkt sie, aber plötzlich ist sie auch ein bisschen traurig und muss noch einmal an den Wilhelm Troppau denken, der . . .
Dann ist der Gottesdienst vorbei, und die Frau geht hinaus und schiebt einen Zwanzigmarkschein in den Opferstock, sie weiß, dass das nicht viel ist für die armen Russen, aber wenig ist es auch nicht, nicht für eine Kassiererin im Drogeriemarkt. Wie die anderen Gläubigen auch darf sie dem Prediger die Hand geben, sie geht am Vorgarten vorbei auf die Straße, es ist ein schöner Sommertag, kein Wölkchen am Himmel, als sie hochsieht, fällt ihr Blick auf die Dachantenne über dem Haus der Gemeinde des Wahrhaftigen Wortes, irgendwie wundert sie das, aber es will ihr nicht einfallen, warum.
Gemeinsam mit einem älteren Ehepaar aus Walldorf geht sie zur Hauptstraße vor an die Haltestelle. Sie sprechen darüber, wie schön der Gottesdienst wieder gewesen ist, und dass es doch wirklich schlimm sei, was sie im Fernsehen alles ausbreiten. Sie kommen nur langsam voran, denn die Frau aus
Walldorf hat eine schlimme Arthrose, bald wird sie an Stöcken gehen müssen, die Kasse würde ihr vielleicht eine Kur in einem Thermalbad bezahlen, aber wer sorgt dann für den Mann?
Sie kommen aber doch noch rechtzeitig zur Haltestelle, der Bus hält wenig später, mit ihr und dem Paar aus Walldorf steigt auch ein Mann ein, der ihr den Vortritt lässt. Sie verabschiedet sich von dem Paar und setzt sich auf eine Bank beim Ausstieg, denn sie fährt nur wenige Stationen mit. Der Bus schaukelt an den Hängen der Berge entlang, es wäre schön, einmal wieder einen Ausflug zu machen, denkt die Frau, aber am Nachmittag will sie die Tante im Altenheim besuchen.
Dann hält der Bus auch schon am Bahnhof von St. Ilgen, sie steigt aus, ebenso der Fremde, der an der Haltestelle gewartet hatte. Sie steigt die Überführung hinauf und auf der Sandhausener Seite der Bahnlinie wieder hinunter, der Mann aus dem Bus hat den gleichen Weg wie sie, irgendwie ist das seltsam, sie hat ihn noch nie gesehen, warum läuft er hartnäckig hinter ihr her? Man könnte direkt meinen, er folgt ihr, angenehm ist das nicht, eigentlich ist sie aus dem Alter heraus, dass ihr Männer nachlaufen. Plötzlich muss sie daran denken, dass es auch schon Überfälle auf Supermärkte gegeben hat, bei denen die Verbrecher die Kassiererin als Geisel genommen haben, aber heute ist doch Sonntag ...
»Entschuldigen Sie«, sagt der Mann hinter ihr. Sie erschrickt, dreht sich um und sieht ihn an und ist dann doch etwas beruhigt.
Er ist zwischen 50 und 60 Jahre alt, hält sich aufrecht, irgendwie straff, und blickt sie offen an, nicht so verdruckt, wie sie es auch kennt. Er sucht die Philipp-Schmidt-Straße, sagt er, aber das gibt ihr schon wieder einen Stich, denn das ist die Straße, in der Wilhelm . . . Sie erklärt ihm, dass er vorgehen soll bis zur evangelischen Kirche und dann rechts. Der Mann bedankt sich. »Ich suche einen Kollegen von früher . . . eigentlich dachte ich, er ist in dem Gottesdienst, wissen Sie, bei diesem Prediger, Sie waren doch auch dort.«
Oh nein, denkt die Frau und sieht ihn an. Hitze fällt vom Himmel, und der Boden schwankt.
»Ist Ihnen nicht gut?«
Die Frau wehrt ab. »Es geht schon.« Sie atmet durch. »Sagen Sie doch – wie heißt Ihr Kollege?«
Er sagt es ihr, aber sie weiß die Antwort schon. »Sie werden Wilhelm nicht antreffen«, antwortet
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