Die schwarzen Wasser von San Marco
avogardi . Vage wurde mir bewusst, dass ich mit meinen verschmutzten Kleidern und der blutigen Wunde an meinem Unterarm aussah wie ein verrückt gewordener Rächer. Die Türen der Zimmerflucht standen alle offen. Ich hinkte an ihnen vorbei und spähte in jeden Raum hinein. Die Gesichter, die sich mir zuwandten, bestanden ausnahmslos aus großen, erstaunten Augen und runden Mündern. Die Männer in den schwarzen Roben, die hinter ihren Schreibpulten oder am Fenster standen, wirkten wie in einen Käfig gesperrte Raben, die jemand durch unsanftes Klopfen aus dem Schlaf gerissen hat. Ich merkte, dass mein Verstand sich auf Abwege begab, und hoffte, bald auf Paolo Calendar zu stoßen, bevor ich tatsächlich große Raben sah oder kichernd auf den Fußboden sank.
Calendar diskutierte mit einem der avogardi im vorletzten Arbeitszimmer des langen Ganges. Ich stolperte hinein, und beide sahen mich fassungslos an. Der Wachsoldat stürzte mir nach und streckte die Hände aus, um mich zu ergreifen. Calendar erkannte mich und eilte mir entgegen. Er winkte dem Wachsoldaten und schickte ihn mit ein paar Worten hinaus. Die Miene des Staatsanwalts, mit dem er gesprochen hatte, wechselte von Überraschung zu ärgerlichem Argwohn. Calendar entschuldigte sich bei ihm und führte mich aus dem Raum.
»Was ist Ihnen denn zugestoßen?«, fragte er und musterte mich. Seine Augen verengten sich, als er die blutige Wunde entdeckte.
»Ich war wieder mal an der falschen Stelle«, brummte ich und lehnte mich an die Wand. »Kann ich mich irgendwo hinsetzen?«
Calendar führte mich zurück ins Treppenhaus zu einer Art Antichambre, wo an den Wänden Bänke befestigt waren. Ich ließ mich auf eine niederfallen, während Calendar an der gegenüberliegenden Wand Platz nahm. Wir waren allein in dem Warteraum. Er lehnte sich zurück und betrachtete mich. Ich legte den verletzten Arm vorsichtig auf meinen Oberschenkel. Die Wunde begann zu verkrusten.
»Brauchen Sie etwas?«
»Einen Schluck Wasser und ein feuchtes Tuch würde ich nicht ablehnen.«
Er nickte, ohne sich zu bewegen oder jemanden zu rufen. »Erzählen Sie.«
»Im Viertel hinter dem Arsenal können Ihre Leute zwei Kerle aufsammeln. Einer ist wahrscheinlich tot, der andere hat einen Brummschädel und ist an Händen und Füßen gefesselt.« Ich berichtete ihm, was vorgefallen war. Er regte sich kaum. Als ich ihm erzählte, dass die Gassenjungen über den Verletzten hergefallen waren, schloss er kurz die Augen und machte eine Kopfbewegung, die sowohl ein Nicken als auch ein Kopfschütteln sein konnte.
»Sie wissen nicht, wie lange Ihnen die beiden schon gefolgt waren?«
»Mindestens seit heute Mittag. Sie könnten aber auch schon seit Tagen hinter mir her sein und erst heute den Befehl erhalten haben, mich zu greifen. Ich habe nicht aufgepasst.«
»Warum sollte jemand sich die Mühe machen, Sie verfolgen zu lassen?«
»Fragen Sie lieber, wer.«
»Die eine Frage beantwortet die andere.«
Ich nickte und betastete meine Wunde. Als hätte er darauf gewartet, betrat der Wachsoldat mit einem kleinen Mann im Schlepptau die Kammer. Er trug ein Becken, in dem Wasser schwappte. Der kleine Mann blickte erstaunt in mein Gesicht. Ich war nicht minder überrascht: Es war der Arzt, den ich zu Clara Manfridus’ Ärger für Jana engagiert hatte. Sein kleines Mündchen verzog sich vor Missbilligung. Calendar machte eine einladende Handbewegung. Ich zog meinen Arm fester an mich.
»Ich kann nachher gern in die Schüssel pinkeln und ihn meinen Urin beschauen lassen«, sagte ich unfreundlich. »Ansonsten würde ich es vorziehen, wenn er mir nicht zu nahe kommt.«
Calendar zuckte mit den Schultern. Er wechselte ein paar halblaute Worte mit dem Wachsoldaten und schickte die beiden wieder hinaus. Der Arzt warf mir einen Blick über die Schulter zu, der sämtliche alten und neuen Narben an meinem Körper hätte aufbrechen lassen müssen, und stolzierte hinaus. Ich knüllte das Tuch zusammen, das der Wachsoldat hier gelassen hatte, und betupfte den Schnitt. Das Wasser brannte in der Wunde. Calendar beobachtete mein Tun ohne sichtbares Mitleid.
»Der Kerl, der überlebt hat, wird sicherlich aussagen, wer ihn und seinen Freund beauftragt hat.«
»Wo haben die beiden Sie abgefangen?«
»Irgendwo hinter dem Dogenpalast. Ich war unterwegs zu Ihnen und hatte mich verlaufen.«
»Ich erinnere mich, Sie gebeten zu haben, sich ruhig zu verhalten.«
»Ich habe etwas für Sie. Eine Information.«
Die Ränder der
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