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Die schwarzen Wasser von San Marco

Die schwarzen Wasser von San Marco

Titel: Die schwarzen Wasser von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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Dinge ein und dasselbe.«
    Ich fand keine Antwort darauf, die mehr als eine bloße Floskel gewesen wäre. Ich wartete und hörte, wie er seine Stellung änderte. Wir saßen so nahe beisammen, dass unsere Schultern sich beinahe berührten.
    »Im Herbst liegt der Nebel oft tagelang über Venedig. In den Gassen glänzen die Pflastersteine vor Nässe, doch das Wasser in den Kanälen und draußen in der Lagune ist stumpf. In der Stadt orientiert man sich an den Öllichtern, die an den öffentlichen Gebäuden oder an den Palästen der reichen Patrizier flackern; auf dem Kanal sind die Lämpchen der Boote trübe Lichtpunkte, die wie losgelöst durch das graue Zwielicht schwimmen. Die Menschen stehen spät auf und gehen früh zu Bett, und wenn man sich tagsüber in den Gassen begegnet, grüßt man sich, als träfen sich zwei verlorene Seelen auf dem Weg in die Unterwelt. In der Lagune draußen, auf einem Fischerboot, ist man so allein wie ein Verdammter in der Wüste. Es gibt die Welt nur, soweit sie um das Boot herum sichtbar ist, und um das Boot herum sichtbar ist nur das graue, matte Wasser der See und die weit entfernten Feuer, die an den Stränden brennen, damit die Fischer wieder nach Hause finden. Der Nebel trägt die Geräusche aus der Stadt heran, ein Glockenläuten, ein plötzliches Rufen von einer Uferpromenade, aber man weiß nicht, wo es herkommt, und es ist so leise, so weit weg, dass es von einer Stelle außerhalb der Erdscheibe stammen könnte.«
    Calendar schwieg. Ich fühlte mich angesichts seiner Schilderung an meine Heimatstadt Landshut erinnert, wenn die spätherbstlichen Nebel in das enge Isartal glitten und alles darin verhüllten. Mein Hof, eine gute Strecke außerhalb der Mauern gelegen, schien dann plötzlich die einzige menschliche Behausung auf der Welt zu sein, eine steinerne Arche, unbeweglich gestrandet in den vor Nässe dampfenden Feldern. Anfangs hatte ich diese Witterung geliebt und die Wärme, die von den Kerzen, dem seiner Arbeit nachgehenden Gesinde und von meiner Familie kam. Später war ich ein einsamer Noah gewesen, der durch die dicken Butzenscheiben seiner Stube an seinem Spiegelbild vorbei in die graue Düsternis starrte und das Leben hasste.
    »Oft ist der Nebel nur das Vorspiel zu tagelangem Regen. Er fällt stetig, wie ein Vorhang aus Kälte und Feuchtigkeit. In den Gassen der Stadt beginnen die Kanäle, über ihre Fundamente zu steigen und sich die Wege zurückzuerobern, die man ihnen abgetrotzt hat. Auf dem Markusplatz steht das Wasser knöcheltief; die Behörden lassen hölzerne Stege aufschlagen, doch wer ein Gebäude erreichen muss, zu dem die Stege nicht führen, der steigt in das eiskalte Wasser hinab und watet hindurch. Die Patrizier sehnen sich nach dem Feuer in ihrem Kamin, die Bürger nach dem Feuer in der Esse ihrer Küche und die Armen nach dem Bett in ihrer Stube, in dem sie sich nackt aneinander kauern, um die Kälte aus den Gliedern zu vertreiben. Auf einem Fischerboot gibt es kein Feuer und kein Bett. Es gibt nur die Nässe und die Kälte, und kein Gewand der Welt hält diesen andauernden Regen ab, der sich in jede Faser saugt und auch während der Nacht nicht austrocknet. Am Morgen fährt man in klamme Kleidung, die nach dem Rauch des Feuers riecht, das sie nicht trocknen konnte; am Abend zieht man sie noch klammer aus, diesmal nach Fisch stinkend. Die Hände sind starr, weil man sie zu oft in das kalte Meerwasser getaucht hat und die Handschuhe zu klobig sind, als dass man sie zum Arbeiten tragen könnte, und die Knochen schmerzen, wenn man zu Bett geht, als hätte man fettes Fleisch gegessen, das man in Wirklichkeit seit Monaten nicht zu Gesicht bekommen hat. Das große Boot, die caorlìna mit ihrem Segel und der kleinen Schutzkabine, fährt nicht mehr hinaus; es ist wirtschaftlicher, wenn die Fischer einzeln mit ihren kleinen sàndole hinausrudern und sich über die Lagune verteilen. Die caorlìna trägt vier Männer; der sàndolo höchstens einen und ein Kind. Man sitzt darin, ungeschützt vor dem Wetter, wie auf einem Brett, so flach sind die Seitenwände, und wenn man sich zu ungeschickt bewegt, läuft man Gefahr zu kentern. Und man ist allein. Man ist völlig allein, mit sich und den wenigen Fischen, die man gefangen hat und die mit glasigen Augen und nach Luft schnappenden Mündern vor einem sterben.«
    »Ich kann verstehen, wenn Sie nicht mehr in dieses Leben zurückkehren wollen.«
    »Es hat mich zum Trinker gemacht. Schon nach ein paar Monaten. Meine

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