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Die schwarzen Wasser von San Marco

Die schwarzen Wasser von San Marco

Titel: Die schwarzen Wasser von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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nicht. Die Kälte des Wassers verschwand. Meine Arme wurden leicht. Dann schoss ich durch die Wasseroberfläche und brüllte und weinte und rang gleichzeitig nach Atem. Das Boot war ein wenig abgetrieben, aber ich konnte es mit wenigen Schwimmzügen erreichen. Meinen Sohn zog ich hinter mir her. Ich muss ihm nachgetaucht sein, ohne dass es mir bewusst wurde.«
    »Und dann?«
    »Er war besinnungslos. Ich schaffte es, ihn mit dem Oberkörper auf den Bauch des gekenterten Bootes zu schieben, damit er so weit aus dem Wasser war wie möglich. Dann begann ich zu rufen.«
    »Man hat Sie gehört.«
    »Sehr bald. Sonst wären wir beide am Ende doch noch umgekommen. Ein Boot schob sich aus dem Nebel, und der Mann darin zerrte meinen Sohn zu sich herein und gab mir Anweisungen, wie ich mithilfe seines Bootes mein eigenes wieder flottmachen konnte. Wir schoben es umgekehrt über seines, damit es auslaufen konnte, dann drehte er es auf den Kiel zurück und ließ es wieder ins Wasser gleiten. Er bugsierte es längsseits neben seines, lehnte sich hinaus und hielt es fest, und ich kämpfte mich, erstarrt von der Kälte und kraftlos wie ein altes Weib, zwischen den beiden Booten aus dem Wasser, bis ich mich in meines hineinwälzen konnte. Ich werde nie vergessen, wie man einen gekenterten sàndolo wiederaufrichtet. Er fragte mich, ob ich den Weg nach Hause fände, und als ich bejahte, ließ er mich fahren. Ich habe nie nach seinem Namen gefragt und weiß nicht mehr, wie sein Gesicht aussah. Er hat mir und meinem Jungen das Leben gerettet, und ich kann ihm nicht einmal dafür danken.«
    »Sie haben Ihren Sohn selbst gerettet.«
    Er antwortete nicht darauf. Ich überlegte eine Weile.
    »Wie heißt Ihr Sohn?«, fragte ich ihn schließlich.
    »Paolo, wie ich.«
    »Wie alt ist er?«
    »Zwölf Jahre.«
    »Hat er eine Erinnerung an dieses Ereignis?«
    Er lachte bitter. »Ich glaube nicht«, sagte er heiser.
    »Dann sollten Sie auch nicht mehr davon sprechen.«
    »Sie wissen nichts.«
    »Ich habe auch einen Sohn«, sagte ich. »Er heißt Daniel. Er ist jetzt dreiundzwanzig. Ich habe ihn seit drei Jahren nicht mehr gesehen und davor nicht oft. Als er etwa so alt war wie Ihr Sohn, starb meine Frau, und ich habe meine Familie zerbrechen lassen. Ich konnte nicht sehen, dass auch meine Kinder voller Trauer waren. Ich dachte, ich sei allein in meinem Elend. Ich habe sie aus meinem Haus getrieben, und seither ist jede Begegnung mit ihnen mit Schmerzen verbunden.«
    »Es gibt viele Gelegenheiten, sich zu versündigen, und die meisten davon stehen nicht in den Büchern der Pfaffen.«
    Ich zuckte zusammen, als plötzlich Kirchenglocken zu läuten begannen.
    »Mitternacht«, brummte Calendar. »Wachablösung im Dogenpalast.«
    Die meisten Glocken verstummten nach kurzer Zeit mit einem kläglichen letzten Ton. Als die letzte verklungen war, konnte man hören, dass eine einzige Glocke, weit entfernt im Osten der Stadt, noch nicht zur Ruhe gekommen war. Sie klang hektisch und dünn und misstönend über die Entfernung. Nach wenigen Sekunden fiel eine der zuvor verstummten Glocken wieder ein. Ihr Klang kam aus dem Süden und war volltönend, ruhig und selbstsicher. Wir hörten ihr zu, bis auch sie wieder schwieg. Von der ersten Glocke war nichts mehr zu hören; vielleicht hatte der Glöckner angesichts seines Gegners resigniert aufgegeben.
    »Was war das für ein Zweikampf?«, fragte ich.
    »Die Glocken von San Pietro in Castello und von San Polo. San Pietro ist der Sitz des Bischofs von Venedig. Er gilt nicht viel in der Stadt. Seine Kirche hat nicht einmal einen richtigen Turm und liegt weit außerhalb, auf der Ìsola di San Pietro hinter dem Arsenal. Er hat es sich natürlich nicht nehmen lassen, den Tag des heiligen Petrus einzuläuten, aber der Glöckner von San Polo hat ihn daran erinnert, dass heute auch der Tag des heiligen Paulus gefeiert wird.«
    »Dann haben wir beide heute den Tag unseres Namenspatrons. Mein Vorname lautet Peter.«
    »Wenn das ein gutes Zeichen sein sollte, können wir es brauchen.«
    Er sagte nichts mehr. Irgendwann in den letzten Minuten war die vorsichtige Vertrautheit, die sich zwischen uns gebildet hatte, wieder vergangen, und ich fragte mich, wann. Die Schilderung des Unfalls und seiner unglücklichen Zeit als Fischer hatte ihn aufgewühlt, aber ich hatte versucht ihm zu erklären, dass auch andere Fehler machten und die am meisten verletzten, die sie am stärksten liebten – wie zum Beispiel ich.
    Zu spät fiel mir

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