Die schwarzen Wasser von San Marco
Schwager führen stets einen Krug mit gewürztem Wein mit sich und trinken ab und zu, wenn ihnen kalt ist oder wenn es etwas zu feiern gibt. Sie boten mir freizügig davon an. Sie bemerkten nicht, dass ich öfter trank als sie. Nicht dass es viel zu feiern gegeben hätte bei meinen ersten Versuchen, die Netze einzuholen. Aber kalt war mir, kalt genug für zwei Tonkrüge am Tag. ›He, Bruder, gib mir einen Schluck, ich bin wie erstarrt.‹ ›Gebt ihm nur, bevor er uns über Bord fällt, vielleicht wird sein Griff auch sicherer, wenn er besoffen ist.‹ Kennen Sie das Gefühl, vor Demütigung schreien zu wollen, selbst wenn der Spott gutmütig gemeint ist? Dann trinken Sie noch einen Schluck, damit Sie nicht wirklich zu schreien beginnen.«
Er schnippte mit den Fingern. »Ich habe meine Kollegen immer verachtet, wenn ich in einem Arbeitszimmer mein Domizil aufschlug und auf dem Tisch noch die klebrigen Ringe von den Weinkrügen des avogardo fand, der vor mir dort gearbeitet hatte. Aber ich bin in kürzester Zeit schlimmer geworden als sie.«
»Sie haben wieder damit aufgehört, wie mir scheint. Das beweist, dass Sie über die nötige Kraft verfügen.«
»Ich habe damit aufgehört, ja. Aber es hat nichts mit meiner Kraft zu tun. Ich bin nicht so vermessen zu sagen, Gott habe sich meines Verhaltens empört und einen warnenden Finger auf mich gerichtet. Was passiert ist, ist eben einfach passiert, so wie man an der Pest erkrankt und stirbt.«
Auch ich schwieg, als er erneut innehielt; doch offenbar war er nicht in der Lage, von sich aus seine Geschichte weiterzuerzählen.
»Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn diese besondere Art von Pest in das Leben eines Mannes tritt«, sagte ich rau.
»Als die Familie meiner Frau so viel Vertrauen zu mir gefasst hatte, dass sie mich mit einem sàndolo allein auf die Lagune hinausschickten – vielleicht hofften sie insgeheim, dass ich kentern und ersaufen würde und ihre Schwester dann einen ordentlichen Mann heiraten konnte, einen Fischer zum Beispiel –, hing ich schon am Wein wie ein Kind an der Mutterbrust. Es stand jedem frei, sich aus dem Fass zu bedienen, das sich im Schlafzimmer des ältesten Bruders befand, und ich füllte einen großen Becher, bevor ich den Haferbrei zu mir nahm, mit dem sie den Tag begannen, und einen Schlauch, den ich unter meinem Wams versteckte, bevor ich hinausruderte. Ich war schon bei Anbruch der Dämmerung betrunken. Es wurde mit jedem Morgen schlimmer. Schließlich kam der Tag, an dem der Boden des Hauses, in dem wir alle lebten, ärger schwankte als das Boot draußen in den Wellen und ich meine Verwandten nur durch einen blutunterlaufenen Schleier sah. Das soll keine Entschuldigung dafür sein, dass ich an jenem Tag auf den Gedanken kam, meinen Sohn mit hinauszunehmen.«
»O mein Gott«, sagte ich unwillkürlich und ahnte, wie seine Geschichte enden würde. Ich fühlte, wie mir kalt wurde.
»Er ist nicht ertrunken, wenn Sie das meinen«, murmelte er. »Aber: Ja, ich brachte das Boot zum Kentern. Weit draußen in der Lagune, weit ab von jedem Ufer. Ich lehnte mich zu weit hinaus oder was auch immer. Ich möchte nicht einmal ausschließen, dass ich seine Anwesenheit vergaß und das Boot absichtlich umkippte, um zu sterben.«
»Das Wasser war kalt genug, um Sie wieder nüchtern werden zu lassen?«
»Es war so kalt, dass einem sofort der Atem bei lebendigem Leib gefror. Mich nüchtern werden zu lassen dauerte ein paar Augenblicke länger. Er ging unter wie ein Stein. Er hatte sich alle Kleidungsstücke übergezogen, die er besaß, um nicht zu frieren, und sie zogen ihn augenblicklich in die Tiefe. Er konnte nicht schwimmen. Warum hätte ich es ihn lehren sollen? Ich kann es selbst nicht richtig. Ich sah ihn vor meinen Augen absacken und in der stumpfen grauen Tiefe verschwinden; er konnte nicht einmal mehr nach mir rufen.«
»Wie wurde er gerettet?«
Ich hatte das Gefühl, dass Calendar mich lange ansah. Ich erwiderte seinen Blick nicht. Schließlich seufzte er.
»Als ich endlich zu mir kam, befand ich mich unter Wasser. Ich konnte nicht atmen. Meine Brust wollte zerreißen und mein Schädel zerspringen. In meinen Armen hing eine Last, die so schwer war, als versuchte ich, sämtliche Ertrunkenen der Lagune auf einmal nach oben zu zerren. Ich trat das Wasser mit den Füßen und schrie innerlich vor Atemnot. Ich spürte, wie sich mein Denken verwirrte und es plötzlich nicht mehr so wichtig war, ob ich jemals wieder atmen würde oder
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