Die schwarzen Wasser von San Marco
abseits von der Gassenmündung auf den Boden. In der Gasse selbst gab es keinerlei Licht; es war so dunkel wie im Inneren eines Sacks. Wir konnten zu der fondamenta auf der anderen Seite hinübersehen, deren heller Stein im Sternenlicht ungewiss schimmerte. Die Gespräche der Bootsführer waren bis hierher als leises Murmeln vernehmbar. Ich setzte mich neben Calendar nieder. Wenn die Gäste Chaldenbergens aufbrachen, würden uns die Bootsführer unfreiwillig alarmieren.
»Sie haben mir den Pelz gerettet«, sagte ich nach einer langen Pause.
Er machte eine ebenso lange Pause. »Kann sein.«
»Vielen Dank.«
»Sie haben mir bei Barbarigo aus der Patsche geholfen.«
»Was hat er zu Ihnen gesagt?«
»Das wollen Sie nicht wirklich wissen.«
»Sie können die Schimpfworte ja weglassen.«
Ich sah sein Gesicht nicht in der Dunkelheit, aber ich hatte den Eindruck, dass er vage lächelte. Er antwortete nicht.
»Wieso hat der eine der beiden Knaben gerochen, als hätte er im Abtritt gebadet?«, fragte er.
Ich grinste unwillkürlich. »Er hatte den Auftrag, mich zu bewachen. Als ich zu früh aus dem Dachgeschoss zurückkam, schlüpfte er hastig in den Abtritt und versteckte sich dort. Leider war vorher jemand drauf gewesen, der seine Darmbewegungen nicht unter Kontrolle hatte und das Loch um Haaresbreite nicht mehr erreichte. Als er es nicht mehr aushielt, kam er raus – und ich stand direkt vor der Tür.«
Calendar grunzte überrascht. »Er ist in einen Haufen getreten?«
»Schlimmer. Er setzte sich vor Schreck auf das Brett. Nicht gerade auf die sauberste Stelle.«
Ich hörte, wie Calendar versuchte, sein Lachen zu unterdrücken. »Du lieber Himmel«, stieß er hervor.
»Wollen Sie wissen, was er gesagt hat? ›Oh Scheiße, das ist ja Scheiße!‹«
Calendar prustete los und hielt sich die Hand vor den Mund. Ich lachte mit. Calendar schüttelte den Kopf.
»Was für ein Ausspruch«, kicherte er. »Dante ist zu früh gestorben, sonst hätte er ihn verewigt.«
Ich wartete, bis sein Lachen wieder abgeklungen war.
»Barbarigo hat Ihnen angedroht, Sie endgültig aus dem Polizeidienst zu entfernen, oder?«, fragte ich dann.
Sein Schweigen war Antwort genug.
»Bevor Sie sich dieser unglücklichen Affäre widmeten, was waren Sie da? Auch nur ein einfacher milite ?«
Er atmete lange aus. »Ich war avogardo .«
»Staatsanwalt!?«
»Je höher man steht, desto tiefer fällt man.«
»Barbarigo hat Ihnen angekündigt, dass Sie auf den Fischerbooten Ihrer Verwandten versauern werden.«
Er sagte wieder nichts. Ich kannte die Arbeit auf einem Fischerboot nicht, aber ich hatte etliche Fischer gesehen, seit ich hier war, und sie hatten nicht den Eindruck gemacht, dass ihr Leben die Hölle war. Es mochte hart sein für jemanden, der bisher als Staatsanwalt gearbeitet hatte, aber er war im Familienbetrieb seiner Schwager untergekommen und sicherlich nicht wie ein Sklave behandelt worden. Es hatte mit dem zu tun, was er mir schon bei unserem Gespräch im Keller des Dogenpalastes nicht hatte anvertrauen wollen.
»Was ist passiert im letzten Jahr?«, fragte ich sanft.
Steine und Mauerwerk der Häuser waren aufgewärmt, wo die Sonne sie tagsüber beschienen hatte. Selbst jetzt, zur späten Nachtstunde, fühlten sie sich ungewohnt warm an. In unserer Gasse schien die Sonne nur ein kurzes Gastspiel gegeben zu haben; es war etwas kühler als in der restlichen Stadt, doch auch hier atmeten die Mauern die Wärme des Tages aus. Ab und zu trieb von der Gassenmündung ein warmer Hauch heran, den eine unmerkliche Brise mit sich trug. Das Murmeln der Bootsführer vor Chaldenbergens Haus war auf die Entfernung wie das sanfte, heimelige Gespräch von Freunden, deren Kreis man kurz verlassen hat, um mit sich und seinen Gedanken allein zu sein. Ich hörte das Plätschern des rio , das vom Sprung eines Fisches oder von einer Wellenbewegung stammte, die irgendwo weit draußen in der Lagune ihren Anfang genommen hatte und hier, an der steinigen Uferpromenade vor dem Haus des Kaufmanns, endete. Uns umgab eine Szenerie, der zur Vollendung nur noch der Becher teuren Weins in der Hand fehlte. Eine Szenerie, die die Schreie im Inneren des Hauses verbarg, das wir überwachten.
15
»Was ist das Schlimmste, das Sie jemals getan haben?«, fragte Calendar, nachdem wir eine Weile schweigend nebeneinander gesessen hatten.
Ich sah verblüfft auf. »Ich kann Ihnen das Schlimmste erzählen, das mir je passiert ist.«
»Was mich betrifft, sind beide
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