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Die schwarzen Wasser von San Marco

Die schwarzen Wasser von San Marco

Titel: Die schwarzen Wasser von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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Ihr Anführer tauschte mit dem Wächter einen komplizierten Gruß, der von Ferne aussah, als würden sie miteinander ringen, und in seiner Lautlosigkeit so gespenstisch wirkte wie das Ritual von Teufelsanbetern. Die anderen beiden Hinzugekommenen bezogen vor dem Mauergeviert Posten.
    Wir wichen wieder hinter die Hausecke zurück. Ich hatte die Szene atemlos beobachtet und mich wie der Zeuge eines gespenstischen Treffens gefühlt; der letzte Messgänger, der nach der Christmette aus der Kirche tritt und sich noch einmal umwendet und im Kirchhof die Toten wandeln sieht.
    »Wir müssen etwas tun«, flüsterte ich.
    »Ich hatte gehofft, noch vor denen hier anzukommen.« Calendar zuckte verärgert mit den Schultern.
    »Was werden sie mit ihr anstellen?«
    Calendar schlug mit der Faust gegen die Mauer. »Was werden sie nicht mit ihr anstellen?«
    »Mein Gott, sie gehört doch eigentlich zu ihnen!«
    »Ich glaube nicht, dass Chaldenbergen ihnen das hat ausrichten lassen.«
    Ich starrte ihn an. »Sagen wir es ihnen.«
    »Und wie wollen wir das tun? Die hohle Geisterstimme, die aus den Mauern tönt, während wir uns irgendwo verstecken und hoffen, dass sie uns nicht aufspüren?«
    »Nein, wir gehen auf den Platz hinaus und teilen es ihnen mit.«
    Jetzt starrte Calendar mich an. »Hegen Sie so großes Verlangen, sich zu Ihren toten Vorfahren zu gesellen?«
    »Ich hege das Verlangen, meine Gefährtin in den Arm zu nehmen und sagen zu können: Morgen brechen wir von hier auf.«
    Calendar schloss die Augen und schüttelte leicht den Kopf. »Tun Sie es doch«, murmelte er. »Warum sind Sie überhaupt hier?«
    – Weil sich sonst keiner darum kümmert.
    »Weil ich genauso ein Idiot bin wie Sie.«
    Er nickte langsam. »Ein guter Grund.« Er schob sich vorsichtig zur Ecke und spähte hinüber. Ich sah ihn kaum merklich den Kopf schütteln, wie jemand, der resigniert. Er wandte sich wieder ab und blickte mir in die Augen.
    »Wenn wir beide uns plötzlich vor einem großen Tor wiederfinden und ringsumher ein Chor ertönt, dann wundern Sie sich nicht. Wir sind dann nämlich tot und klopfen an die Himmelspforte.«
    »Sie mit Ihrem Sündenregister wird man gar nicht reinlassen«, sagte ich.
    »Da oben würde ich ohnehin niemanden kennen.« Er straffte sich. »Halten Sie sich dicht bei mir. Wenn sie über uns herfallen, dann scheuen Sie sich nicht, Zähne und Fingernägel einzusetzen. Die anderen werden es auch tun.« Er musterte mich und nickte dann mit einem schiefen Lächeln. »Wer weiß, welche Überraschung noch in Ihnen steckt.« Wäre er nicht Paolo Calendar gewesen, hätte er mir wahrscheinlich auf die Schulter geklopft.
    Ich wollte etwas entgegnen und merkte, wie trocken mein Mund war. Calendar trat um die Ecke und wartete, bis ich neben ihm stand. Die zwei Aufpasser hatten ihre Aufmerksamkeit in eine andere Richtung gewandt und sahen uns nicht. Drei der Kerle auf dem Mauerkranz waren bereits verschwunden; der vierte sprang eben hinab. Calendar steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen gellenden Pfiff aus.
    Die Wachposten fuhren herum; einer wäre vor Schreck fast hingefallen. In Sekundenschnelle schwangen sich zwei der Kerle aus der Abfallgrube wieder hinaus. Ich erkannte, dass sie dieselbe Taktik anwandten wie Calendar und ich kurze Zeit zuvor: Eine Eingreifreserve hielt sich versteckt und hoffte auf das Überraschungsmoment. Calendar zögerte keinen Augenblick. Er eilte mit weit ausgreifenden Schritten auf die Burschen zu. Ich wich nicht von seiner Seite. Sie sahen uns mit weit aufgerissenen Augen entgegen. Mit jedem Schritt, den wir näher herankamen, verwandelten sie sich von erschreckenden Nachtgespenstern zu zerlumpten Männern und von den Männern zu mageren, abgerissenen Halbwüchsigen mit den eingefallenen Gesichtern jahrelanger Vernachlässigung. Calendar begann mit lauter Stimme zu sprechen, nein, zu schreien, und als er vor den Wachposten ankam – Burschen, die zu klein waren für ihr Alter und zu ihm aufsehen mussten –, marschierte er einfach weiter und drängte sie vor sich her, bis sie mit den Rücken an die Mauer stießen und nicht mehr ausweichen konnten. Er beendete seine Rede, holte aus und gab dem ihm zunächst Stehenden eine schallende Ohrfeige.
    Ich schielte zu den beiden Jungen hoch, die auf dem Mauerkranz kauerten. Calendar trat einen Schritt zurück, gestikulierte zu ihnen hoch und bellte sie an. Ich verstand, was er ihnen zurief: »Ihr da, sofort herunter! Und eure Freunde dort drin, sofort

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