Die schwarzen Wasser von San Marco
Ordnung und eine Hierarchie heraus, und sei es nur die der Gewissenlosigkeit, in der die größten Schurken ganz oben anzutreffen sind. Ich verzichtete darauf, mich zu erkundigen, was Calendar zu tun gedachte, wenn wir einer solchen Patrouille in die Hände fielen.
Wir fanden drei weitere Sammelstellen, wo wir nicht mehr als zahlreiche Ratten aufscheuchten. Calendars Miene wurde zunehmend zweifelnder. Er sagte nichts, aber ich sah ihm an, dass er allmählich befürchtete, die falsche Taktik eingeschlagen zu haben. Die von Chaldenbergen gedungenen Burschen hier im Elendsviertel mochten Caterina längst verschleppt haben. Wir stapften weiter, und ich fühlte, dass meine Wut von vorhin nicht verflogen war, sondern lediglich Atem geholt hatte und jetzt auf der Suche nach einem neuen Ziel war. Calendars demonstrative Ruhe begann mich zu reizen; er stolzierte durch das Viertel, als hätte er alles, was geschah, geplant; und dabei hatten wir sowohl die drei Männer, die uns zu Caterina hätten führen können, entkommen lassen als auch keine Ahnung, wo wir das Mädchen suchen sollten.
Ich war mit meinen eigenen schwarzen Gedanken beschäftigt und achtete nicht auf ihn oder auf die Umgebung, und so erschrak ich, als er mich plötzlich packte und gegen eine Wand drückte. Ich holte Atem, um zu protestieren, aber er presste mir die Hand auf den Mund. Wir waren mittlerweile so tief in die elenden Gassen eingedrungen, dass ich völlig die Orientierung verloren hatte. Wer sich hier bewegte, gehörte ausschließlich zu den Unseligen, deren Schicksal es war, hier zu leben. Nicht einmal die Katzenspieler drangen so weit vor.
Ich starrte Calendar an. Alles war ein abgekartetes Spiel: Chaldenbergen hatte nicht gewagt, mich in seinem Haus zu erledigen, deshalb hatte er Calendar holen lassen, den Polizisten, der merkwürdigerweise in der Nähe jedes Mordes gewesen war und für dessen Worte über seine Vergangenheit und den Fall, den er zu klären hatte, ich keine Gewissheit besaß außer seinem ernsthaften Auftreten. In diesem Moment war ich mir sicher, dass ich bald wissen würde, wo Caterina war – wenn ich tot oder sterbend neben ihr lag. Calendar, der alles tun würde, um nicht wieder auf dem Fischerboot zu landen, war so korrupt geworden wie die Männer, die er vor einem Jahr verfolgt hatte. Wenn nicht sogar Calendar von vornherein der Korrupteste von allen war und mich die ganze Zeit über an der Nase herumgeführt hatte, bis seine Auftraggeber entschieden, dass ich verschwinden musste. Ich hob entsetzt den Arm, um seine Hand beiseite zu drücken.
Er nahm sie freiwillig weg und starrte mir ins Gesicht. Mit einem Kopfnicken wies er zur Seite. »Dort drüben«, zischte er mit funkelnden Augen. Er schob mich halb zur Mauerecke und deutete um sie herum. Ich folgte seinem Fingerzeig mit zitternden Knien.
Das Geviert stand mitten auf einem freien Platz, der wie eine Art campo wirkte. Die Häuser ringsumher waren niedrige, großteils hölzerne Schuppen. Wenn der Platz jemals nach einem Heiligen benannt gewesen war, dann hatte sich dessen guter Geist längst verflüchtigt. Auf dem Mauerkranz stand, vom Mondlicht beleuchtet und angestrengt in die Gassen jenseits des Platzes starrend, eine zerlumpte Gestalt. Calendar zerrte mich zurück.
»Das ist entweder ein Wachposten oder einer, der auf seine Freunde wartet, um sich um eine Aufgabe zu kümmern«, erklärte er.
Ich nickte, noch immer mit zittrigen Beinen. Als er selbst noch einmal um die Ecke spähte, betrachtete ich seine Miene, als sähe ich ihn zum ersten Mal. Er bemerkte es und wandte sich zu mir um.
»Was ist?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nichts«, sagte ich. Plötzlich hatte ich das Bedürfnis, seine Hand zu drücken. Ich verdrängte den Impuls. Er hätte ihn sicher nicht verstanden, und ich würde ihm niemals erklären, welche Gedanken mir durch den Kopf gegangen waren. »Was schlagen Sie vor?«
»Die Entscheidung wird mir gerade abgenommen«, murmelte er. Ich lugte um die Ecke.
Es waren fünf, und sie näherten sich ihrem Freund auf der Mauer so lautlos und umsichtig, als hätten die Ratten Menschengestalt angenommen und würden über den Platz schleichen, um sich zu unsäglichen Dingen zu versammeln. Sie blieben vor der Abfallstelle stehen und sahen zu dem einsamen Wächter hinauf. Dieser breitete die Arme aus wie der Ansager einer abgerissenen Schauspielertruppe, der sein neuestes Stück ankündigt. Drei der Neuankömmlinge schwangen sich ebenfalls auf die Mauer.
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