Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die schwarzen Wasser von San Marco

Die schwarzen Wasser von San Marco

Titel: Die schwarzen Wasser von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
Vom Netzwerk:
raus!«
    Der Junge, dem Calendar die Ohrfeige verpasst hatte, duckte sich und rieb sich die Wange. Ich versuchte zu erkennen, ob seine abgewandten Augen heimtückisch blinzelten, aber er schien lediglich eingeschüchtert zu sein. Die beiden auf der Mauer sahen sich unschlüssig an, aber als Calendar laut zu fluchen begann, zuckten sie zusammen. Einer winkte seinen versteckten Kameraden zu. Sie sprangen zu uns herab, während die anderen drei sich aufrichteten und herüberkletterten. Fast alle trugen die Narben der Katzenspiele in den Gesichtern.
    Calendar begann mit einer leidenschaftlichen Rede, kaum dass die Burschen sich vor uns aufgestellt hatten. Ich verstand kein Wort davon. Er schien den Dialekt der Elendsviertel zu beherrschen, und was immer ich an venezianischen Vokabeln vielleicht verstand, nützte mir hier vollends nichts mehr. Dennoch war mir, als könnte ich seinen Worten folgen:
    Die dort drin liegt, ist eine von euch, die Schwester von Fratellino. Das reiche Gesindel, das euch zwingt, wie die Ratten zu leben, hat sie zu seinem eigenen Vergnügen missbraucht und jetzt weggeworfen wie eine zerbrochene Puppe. Jetzt wollen sie sich die Finger nicht mehr schmutzig machen an ihr, deshalb haben sie euch was gegeben, um die Drecksarbeit für sie zu erledigen. Das kriegen diese Bastarde wunderbar hin, nicht wahr? Sie holen sich eine von euch und schänden sie, und dann lassen sie euch auch noch die Arbeit, sie zu erschlagen und die Leiche verschwinden zu lassen. Auf diese Weise üben sie die Macht über euch aus – weil sie euch mit jeder Gemeinheit, die ihr für sie erledigt, tiefer in den Schmutz stoßen, bis ihr euch gegenseitig auffresst. Das Mädchen dort in der Grube stammt aus diesem Viertel, es ist so alt wie ihr. Sie haben es zum Abfall geworfen, weil sie denken, dass ihr den Abfall am ehesten findet. Die Seelenlosen, die eure kleinen Brüder für das Katzenspiel verkaufen; die Schweine, die eure kleinen Schwestern festhalten, während sie ihnen beibringen, wie man die perversen Kaufleute aus den feinen Häusern befriedigt; die Bastarde, die euch zu Arbeiten wie dieser verpflichten, damit ihr ebenso schnell verroht wie sie; die lebenden Toten, deren Gewissen verfault und deren Seele verkauft ist. Sie alle haben es geschafft, dass sie euch nur zu bezahlen brauchen, damit ihr euch gegenseitig totschlagt, und sie freuen sich darüber, weil es ihnen vor euch ekelt, weil sie sich vor euch fürchten. Das Mädchen da drin heißt Caterina; ihre Mutter hat gehofft, dass sie ein Leben in Reinheit führen könnte, als sie ihr diesen Namen gab. Die Geldsäcke drüben in der Stadt haben ihr die Reinheit genommen; wollt ihr ihr jetzt das Leben nehmen?
    Das wären meine Worte an sie gewesen. Was auch immer Calendar den verwahrlosten Jungen erzählte, sie hörten ihm jedenfalls zu, ohne zu widersprechen. Als Calendar endete, scharrten sie mit den Füßen auf dem Boden und warfen sich Blicke zu. Ich hatte Scham oder Trotz erwartet; ihre Mienen allerdings zeugten von absoluter Verständnislosigkeit.
    Calendar stieß einen von ihnen vor die Brust, dass er gegen einen seiner Freunde taumelte. Sie wichen ihm aus, als er gegen die Mauer trat, die Hände auf den Mauerkranz legte und sich hochzog. Er blickte in die Abfallgrube hinein. Sein Gesicht erstarrte.
    »Was ist?«, zischte ich angstvoll.
    Wir waren zu spät.

17
    Calendar blieb, wo er war, seine Augen unverwandt ins Innere des Gevierts gerichtet. Ich hielt es nicht mehr aus; ich stellte mich neben ihn (die Burschen wichen auch vor mir zur Seite) und zog mich hoch, um ebenfalls in die Abfallgrube sehen zu können. Ich machte mich auf einen schrecklichen Anblick gefasst.
    Es waren sechs oder sieben. Ihre Beine waren gefesselt und die Köpfe mit Tuchfetzen umwickelt, damit sie nicht schreien konnten. Anders als ihre Leidensgenossinnen, die ich hier hatte herumstreunen sehen, waren sie nicht abgemagert und struppig, sondern gut im Fleisch. Ich wusste jetzt, wo Chaldenbergens Katzen abgeblieben waren und wofür die Schlinge in seinem Dachboden verwendet worden war.
    Ich spürte Calendars Blick und wandte mich zu ihm. Sein Gesicht war weiß.
    »Scheiße« , sagte er mit Nachdruck.
    »Der Teppich«, erwiderte ich dumpf. »Er gehörte nicht zum Fondaco. Chaldenbergen hatte nirgendwo einen Teppich aufgehängt.«
    Drei von Chaldenbergens hier in Venedig angemieteten Dienern hatten sich ein zusätzliches Geschäft versprochen – und ihre Mittelsmänner im Elendsviertel waren

Weitere Kostenlose Bücher