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Die schwarzen Wasser von San Marco

Die schwarzen Wasser von San Marco

Titel: Die schwarzen Wasser von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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verlieren; wir müssen nach ihr suchen.«
    »Ich suche bereits«, erklärte er. Ich folgte seinem Blick. Nicht weit von uns entfernt sah ich eines der gemauerten Rechtecke im Mondlicht; zu klein für ein Haus, zu groß für eine Zisterne. Der Schein des Mondes warf einen hellen Rahmen auf den oberen Kranz der Mauer. Plötzlich huschte etwas in das helle Licht und verhielt auf dem Mauerkranz, eine struppige, geduckte Gestalt.
    »Eine Ratte«, sagte ich. Calendar nickte.
    »Was ist das für ein Bauwerk?«
    Calendar schwang sich über die Mauer. Er hatte sich dahinter zusammengekauert, weil er der Ansicht gewesen war, ein Mann, der einen Betrunkenen gab, wirkte überzeugender als zwei. Er hatte mir aufgetragen, still zu liegen und mich nicht zu bewegen, und mir versichert, im Notfall würde es uns zugute kommen, wenn er sich überraschend aus seiner Deckung erhob. Er putzte Staub von seinen Ärmeln; er sah aus, als hätte er seine Kleidung eben aus der Truhe geholt und angezogen. Er starrte zu der Ratte hinüber, die von der Mauer sprang und verschwand, als wäre sie nie da gewesen.
    »Scoazza« , erklärte Calendar. »Abfall. Diese scoazzere fanden sich früher überall in der Stadt, aber die meisten sind wieder abgerissen worden.«
    »Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Menschen, die hier leben, viel wegzuwerfen haben.«
    Er zog die Augenbrauen hoch und sah mich an. »Sie missverstehen«, sagte er kühl. »Die Behörden lassen den Abfall herbringen, dessen Gestank sonst die Gassen verpesten würde. Die Leute hier ernähren sich davon.«
    Er betrachtete das Mauergeviert weiterhin unverwandt. Schließlich gab er sich einen Ruck und marschierte darauf zu. Er bewegte sich so ungezwungen, als wäre es heller Tag und wir würden über den Markusplatz schlendern. Ich eilte ihm nach und öffnete den Mund, um ihn zu fragen, was zum Teufel es mit dieser Abladestelle auf sich hatte und ob er es nicht für besser halte, endlich auf die Suche nach Caterina zu gehen, ließ es dann aber sein.
    Die Mauer war etwa mannshoch. Calendar legte die Hände um den Mauerkranz und zog sich so weit nach oben, dass er hineinspähen konnte. Ich hörte das hastige Scharren, als die Ratten in die dunklen Ecken flohen. Um die Abfallsammelstelle lag ein schwacher Geruch nach Fäulnis und gärendem Gemüse; sie war entweder fast leer oder schon lange nicht mehr gefüllt worden. Calendar ließ sich wieder auf den Boden zurücksinken. Er schüttelte den Kopf.
    »Wäre auch zu schön gewesen«, sagte er.
    Erst jetzt begann ich zu verstehen: Wir suchten bereits nach dem Mädchen. Welche Stelle würde sich wohl am besten bezeichnen lassen, wenn man hier etwas abladen und von einigen verrohten Bewohnern dieser Gassen verschwinden lassen wollte? Welche Stelle würden sie alle kennen?
    Calendar ging davon aus, dass Chaldenbergens Männer Caterina einfach zum Abfall geworfen hatten – verletzt, bewusstlos oder sterbend. Der leidige, mir nur allzu vertraute Zorn kochte hoch und sprudelte aus mir heraus.
    »Zu schön ?«, stieß ich hervor. »Wie können Sie so ein Wort auch nur in den Mund nehmen angesichts der Tatsache, dass … dass …«
    »Ich bin nicht der, der sie dort deponiert hat«, erwiderte er ruhig. »Also reißen Sie sich zusammen.«
    Ich trat mit dem Fuß gegen die Mauer, dass ich es bis in die Zähne hinauf spürte. Vertrockneter Putz wolkte auf; die Ratten jenseits der Mauer quiekten. Ich versetzte dem Bauwerk einen weiteren Tritt und wünschte, ich könnte es zum Einsturz bringen wie Samson den Tempel. Calendar betrachtete mich mit ausdruckslosen Augen. Mein Fuß tat weh. Ich seufzte.
    »Schon gut, schon gut«, sagte ich. Calendar nickte.
    Danach führte er mich in einem gewundenen Kurs durch die Gassen, auf der Suche nach weiteren Abladestellen. Er kannte ihre Standorte nicht, aber er war in dieser Stadt aufgewachsen und hatte ein Gefühl dafür, wo sie sich befinden konnten. Er sah sich kaum um, ob uns jemand beobachtete oder gar verfolgte. Die scheinbare Leblosigkeit des Viertels begann nach einiger Zeit an meinen Nerven zu zerren. Ich war sicher, dass sich hinter den zerbröckelnden Mauern verstecktes Leben drängte und uns das eine oder andere Augenpaar aus der Dunkelheit eines Fensterlochs verfolgte. Die Menschen waren zu verängstigt, um zwei Männer aufzuhalten, die sich mit scheinbarer Dreistigkeit durch ihre Gassen bewegten. Vielleicht gab es auch hier Patrouillen – selbst in den verkommensten Gegenden bildet sich eine Art

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