Die schwarzen Wasser von San Marco
Brunnen die finstere Tiefe, in die er gefallen war, seit er seinem Sohn hinterhergetaucht und einen Fremden mit sich nach oben gebracht hatte.
»Sie müssen sich einen mächtigeren Mann als Barbarigo gewogen machen. Was ist mit Leonardo Falier?«
Calendar grunzte und schüttelte den Kopf.
»Warum nicht? Sie müssen es Falier nur ermöglichen, an den Erfolg des Kommandanten der Aquila anzuknüpfen. Sorgen Sie dafür, dass er Ihnen zu Dank verpflichtet ist.«
»Die Piraten sind gefasst.«
»Es bleibt noch Ihre Mission: die Suche nach dem jungen Prinzen aus Sinope.«
»Ich habe bis jetzt keine Meldung aus Rom.«
»Sie werden nie eine erhalten.«
Er nickte, ohne aufzusehen.
»Rara ist nichts anderes als eine Bordellwirtin, die ihre Schützlinge in den Künsten der Liebe ausbilden lässt«, sagte ich schließlich. »Sie können Chaldenbergen nicht dafür belangen, dass er ein junges, elternloses Mädchen vergewaltigt hat. Aber Sie können Rara vor Gericht zerren, weil sie ohne behördliche Genehmigung ein Bordell führt. Und nach allem, was ich gehört habe, wird ein Schlangennest an Niedertracht und geheimer Perversion offenbar, wenn sie beim Verhör zu plaudern beginnt. Bekannte Namen werden fallen; geben Sie sie an Falier weiter, und Sie geben ihm das Mittel in die Hand, sich als der Initiator einer moralischen Erneuerung in der Stadt zu gebärden. Er wird sich auf diese Möglichkeit stürzen wie der Teufel auf die arme Seele.«
»Sie glauben doch nicht im Ernst, dass er mir zuhören wird, wenn ich ihm diese Idee unterbreite.«
»Er wird Ihnen zuhören, wenn Rara Ihre Aussagen bestätigt. Und er wird die Gelegenheit beim Schopf packen. Ich habe ihn nur kurz gesehen, aber wenn es je einen Mann gab, der sich als Volkstribun versteht, dann er.«
»Sie wissen doch, was ich über ihn herausgefunden habe – damals.«
»Dass er korrupte Methoden angewandt hat, um seine Stellung zu verbessern? Nutzen Sie doch seine korrupte Ader, damit er sie mal für etwas Gutes einsetzt.«
Calendar wandte sich endgültig von dem Brunnen ab. Er kam langsam zu mir herüber und blieb so dicht vor mir stehen, dass ich den leisen Hauch seines Atems auf meinem Gesicht spüren konnte.
»Wozu tun Sie das?«
»Wenn wir Rara anklagen wollen, müssen wir Caterina finden, die gegen sie aussagt. Wenn wir Caterina finden, wird sie uns zu ihrem Bruder Fratellino führen. Und ich werde herausfinden, warum drei Kinder sterben mussten – Pegno und die beiden Gassenjungen in dem Kanal hinter San Polo.«
»So wie Sie es darstellen, lassen sich alle Schlechtigkeiten, die hier geschehen sind, in einem Punkt zusammenführen.«
»Die ganze Schlechtigkeit der Welt lässt sich in einem Punkt zusammenführen: die Gier der Menschen.«
Calendar versuchte ein schwaches Lächeln. »Sparen Sie sich Ihre philosophischen Kommentare«, sagte er. »Wir haben noch Arbeit vor uns.«
3
Beinahe hatte ich erwartet, die Tür von Raras Haus versperrt vorzufinden. Sie war es nicht; Rara fühlte sich absolut sicher. Während wir die Treppe hinaufstiegen, fragte ich mich, ob alles, was sie mir erzählt hatte, eine Lüge gewesen war, oder ob es wenigstens stimmte, dass Leonardo Falier ihr das Haus überlassen hatte. Hätte er es getan, wenn er geahnt hätte, zu welchen Zwecken sie es missbrauchen würde?
Calendar machte sich nicht die Mühe, vor seinem Eintreten in den Saal zu husten oder gar anzuklopfen. Er stieß die Tür auf und trat mit der ganzen im Lauf der Jahre erlernten Selbstsicherheit ein.
Auf den Truhen in der Ecke saßen wieder einige Mädchen und beschäftigten sich mit Handarbeit. Sie sahen auf, als wir eintraten, und widmeten sich dann wieder ihrer Arbeit. Ich verstand plötzlich die kalten Blicke, die sie oder ihre Leidensgenossinnen mir bei meinem ersten Besuch zugeworfen hatten: Sie hatten mich für einen Kunden gehalten und abzuschätzen versucht, welche von ihnen ich mir aussuchen und wie grob ich wohl sein würde. Mir drehte sich der Magen um.
Calendar hatte den Saal vor mir betreten. Ich wandte mich ab, um die Tür zu schließen, und in diesem Moment trat Rara de Jadra durch einen anderen Eingang in den Saal. Sie richtete ihren Blick auf Calendar und lächelte ihn freundlich an. Dann fasste sie mich ins Auge, und ihre Brauen hoben sich erstaunt. Sie faltete die Hände vor dem Leib; eine Geste der Nervosität, wie mir schien.
»Meine Herren?«, sagte sie unschlüssig in meiner Sprache. Ihre Blicke wanderten von Calendar zu mir und
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