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Die schwarzen Wasser von San Marco

Die schwarzen Wasser von San Marco

Titel: Die schwarzen Wasser von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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dunkel glänzende Oberfläche eines ledernen Wamses zwischen Calendars Händen. Sein Blick fiel auf mich und blieb auf mir ruhen.
    Ich trat die wenigen Stufen hinab, glitt beinahe auf dem rutschigen Marmor aus und bückte mich; Calendar wuchtete seine Last in meine Hände, und ich zog, stolperte zurück und fühlte, wie andere mich unter den Achseln packten und mir halfen, während ich den Leichnam des Gassenjungen mit dem Lederwams fest umklammert hielt.
    Das Wasser plätscherte unten aus dem Wams heraus und gab dem abgemagerten Körper sein wirkliches Gewicht zurück. Ich hob ihn hoch und fühlte, wie sich mir plötzlich die Kehle zuschnürte. Jemand nahm mir die Leiche ab und legte sie auf die oberste Stufe, wo sich alle darum versammelten. In der Enge der Gasse traten wir uns gegenseitig auf die Füße, doch niemand beschwerte sich.
    Das Wasser hatte den Schmutz aus dem Gesicht des Jungen gespült wie das Leben aus seinem Körper. Er sah mit halb geöffneten Augen an uns vorbei, seine Züge beklemmend jung und leer. Seine Lippen waren blau und die Äderchen in seinen Augen geplatzt; als ein rötlich gefärbter Wassertropfen aus einem Augenwinkel rann, sah es aus, als weine er eine blutige Träne. Jemand trat neben mich, dem die anderen bereitwillig Platz machten. Ich hob den Kopf, sah hinter den Umstehenden Janas blasses Gesicht und Marco Manfridus’ fragende Miene und wandte mich von ihnen ab, um Paolo Calendar in die Augen zu sehen.
    »Dieses Mal war er da, wo er nicht hingehörte«, sagte ich heiser und deutete auf den Leichnam. Calendar blinzelte und schüttelte kurz den Kopf. Dann ging er neben dem toten Gassenjungen in die Hocke und bewegte sein Kinn sanft hin und her.
    »Jemand packt ihn am Genick und hält ihn unter Wasser«, sagte er in meiner Sprache. Er wies auf blau gefärbte Druckstellen am Hals des Jungen. »Der Junge kämpft. Er will nicht ertrinken. Er macht jede Menge Lärm.« Calendar stand wieder auf und sagte mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen: »Niemand hört ihn, weil alle den Gauklern zujubeln. Niemand – bis auf einen.«
    Als hätten die Umstehenden seine Worte verstanden, machten sie den Blick auf den zweiten Körper frei. Seine Beine waren nackt, und sein nach oben geschobenes Hemd gab den Blick auf die weißen Schenkel frei. Eine tiefrot gefärbte Wasserlache hatte sich unter ihm gesammelt. Calendar stieg die Stufen hinauf, als habe er Gewichte an den Füßen. Sein Gesicht war starr. Ich folgte ihm, ohne dass er mich daran zu hindern versuchte.
    Als er den zweiten Toten herumdrehte, wusste ich bereits, dass er der Gassenjunge war, den ich auf dem Campo San Polo in Begleitung des Jungen mit dem Lederwams gesehen hatte; der kleine Kerl, der mich gestern zu bestehlen versucht und heute aus Dankbarkeit seine Kameraden angewiesen hatte, mich in Ruhe zu lassen. In seiner Kehle war ein tiefer Schnitt zu erkennen, der ihm beinahe den Kopf abgetrennt hätte. Die Bewegung ließ einen wässrigen Schwall Blut hervortreten.
    »Dieser hier versucht seinem Freund zu helfen«, sagte ich, »aber der Täter hat ein scharfes Messer und sein erstes Opfer bereits erledigt. Danach lässt er beide ins Wasser gleiten und flieht ungesehen.«
    »Es war ein Diebstahl zu viel«, seufzte Calendar und schloss erneut die Augen. »Und er hat ihn nicht einmal selbst begangen.«
    Eine Hand des Toten war durch die Drehung seines Körpers auf seine Brust gefallen. Ich sah die langen, schmutzigen Fingernägel und spürte das knochige Gelenk wieder in meinem Griff.
    Jemand würgte. Jana stützte sich auf Marco Manfridus, der sie mit entsetztem Gesicht zu halten versuchte, und übergab sich. Sie sank langsam auf die Knie. Aus der Richtung des campo näherten sich die Schritte von Stiefeln und das Rasseln von Harnischen und Schwertscheiden.
    »Der Sohn des Herbergswirts kann den Bootsführer zu einer passenden Anlegestelle dirigieren«, sagte Calendar tonlos und wies auf das Boot, mit dessen Hilfe er die Leichen geborgen hatte. »Bringen Sie sie von hier weg und verschwinden Sie.«
    Ich trug Jana zu dem Boot, während Calendar mit den eintreffenden Stadtbütteln sprach. Die Zuschauer starrten uns an und konnten sich nicht entscheiden, ob wir oder die beiden ermordeten Gassenjungen die größere Sensation waren. Jana stöhnte und hielt sich den Leib. Marco stolperte neben mir her; er sah aus, als hätte er sich am liebsten mit übergeben. Er vermied es, auf die beiden Leichen zu blicken.
    Ich drückte Jana an mich

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