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Die schwarzen Wasser von San Marco

Die schwarzen Wasser von San Marco

Titel: Die schwarzen Wasser von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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Verantwortung? Dann wärst du der jüngste Geschäftsmann, den ich kenne. Freu dich. Das Blut deines Bruders hat dich in diese Position gebracht.«
    Ich stapfte zur Tür hinaus und war erleichtert, dem dumpfen Kerkergeruch des Lagergeschosses zu entkommen. Calendar wartete ungeduldig auf mich. Ich blinzelte in den Schaft aus hellem Licht, der in die Lücke zwischen den Dächern fiel, unter der die Brücke über den schmalen rio lag.
    »Was haben Sie noch herausgefunden?«, fragte Calendar, als ich mich zu ihm gesellte und wir auf die Brücke traten. Das Sonnenlicht lag darauf und riss sie aus dem Dunkel der Gassenkreuzung und der fleckigen Ziegelwände.
    »Das wollen Sie gar nicht wissen«, antwortete ich grimmig und spuckte aus. »Kommen Sie endlich. Gehen wir wenigstens einen der Schurken holen.«
    Calendar sah mich erstaunt an, zuckte dann nach einigem Zögern mit den Schultern und sah sich mit zusammengekniffenen Augen um. »Marschieren wir zurück zum Dogenpalast. Vielleicht ist die Suche nach den Entkommenen vom Seuchenschiff schon beendet. Wenn nicht, werden wir dort wenigstens ein Boot und einen Bootsführer bekommen, der uns nach Burano übersetzt.« Er deutete die fondamenta hinunter, die am Rio della Pergola entlang nach Süden lief. »Hier runter kommen wir am schnellsten zum Rialto.«
    Wir waren noch nicht weit gekommen, als ich das Schlagen einer Tür und die hastigen Schritte von Sandalen auf der Brücke klappern hörte. Ich drehte mich um. Andrea Dandolo stützte sich auf das Geländer und starrte uns hinterher. Er war so aschfahl, dass er aussah, als habe er seinen eigenen Tod erblickt. Ich blieb stehen.
    »Stimmt das, was du über meinen Onkel gesagt hast?«, flüsterte er kaum hörbar.
    »Jedes Wort.«
    Unter der Blässe seines Gesichts war der kleine Junge zum Vorschein gekommen, der er wirklich war. Eine Träne rollte ihm über die Wange. Er erbebte.
    »Pegno ist auf Burano«, krächzte er. »Ich habe ihn dorthin in Sicherheit gebracht.«

11
    Der eine Bruder ein Träumer, der sich am liebsten vor der Welt versteckt hätte und in eine Stellung gezwungen war, in der jeden Tag aufs Neue Reaktionsschnelligkeit, Härte und kühle Taktik gefordert waren; der andere Bruder ein kluger, strategisch denkender Analytiker, der in jedem Geschäft mit offenen Armen aufgenommen worden wäre und stattdessen sein Leben in unverstandener Kontemplation hinter Klostermauern zubringen musste. Man hätte meinen müssen, dass Pegno und Andrea sich hassten. Es war alles andere als tröstlich, dass Enrico Dandolo diesem Trugschluss ebenso erlegen war wie ich. Entgegen allen Erwartungen waren die beiden einander in inniger Zuneigung verbunden.
    Als Enrico Andrea benachrichtigen ließ, dass er ihn als Aushilfe für Pegno brauche, dachte Andrea nicht voller Hohn, dass sein Bruder endlich versagt habe und dass nun seine Stunde gekommen sei. Vielmehr ließ er Pegno noch am selben Abend ins Kloster bestellen, um zu erfahren, was passiert war. Pegno, der naturgemäß nicht darüber informiert worden war, was sein Onkel sich ausgedacht hatte, zeigte sich dennoch nicht überrascht: Sein Vater hatte ihn einen Versager geheißen und von Bord seines Schiffes gewiesen, und es konnte nur noch eine Frage der Zeit gewesen sein, bis sich auch sein Onkel diese Ansicht zu Eigen machte. Er gestand Andrea, was auf dem Schiff ihres Vater geschehen war und wie er die Sache sah.
    Andrea begriff sofort, dass dies die Chance war, alles zurechtzurücken, was die Hartherzigkeit und die engstirnigen Pläne ihres Vaters angerichtet hatten. Pegnos Bruder war ein schlauer Kopf, aber dennoch ein Kind, und dass Enrico Dandolo doppeltes Spiel trieb, kam ihm nicht ein einziges Mal in den Sinn. Wenn er also, so Andreas Gedanke, das Geschäft, bei dem ihr Onkel Hilfe brauchte, zur Zufriedenheit abwickelte, konnte er beweisen, dass in ihm all das steckte, was man so vergeblich von Pegno erwartet hatte. Fabio Dandolo würde, sobald er von seiner Reise zurückkehrte, erkennen, dass es nur von Vorteil sein konnte, seine Entscheidungen zu revidieren und Andrea wieder aus dem Kloster zu holen. Und mit kindlicher Rachsucht plante er, Pegno einige Zeit untertauchen zu lassen, um die lieblose Familie ein paar Tage Angst und Sorge auszusetzen. Pegno sollte spätestens dann auftauchen, wenn Andrea das Geschäft seines Onkels in trockene Tücher verpackt hatte, und in der Freude über den guten Ausgang des Handels und der Erleichterung über die Rückkehr des

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