Die schwarzen Wasser von San Marco
totgeglaubten Sohnes würde ihr Vater noch leichter zu überzeugen sein, dass er sich in der Lebensplanung beider Söhne geirrt hatte.
Wir ruderten in einem der Boote in die Lagune hinaus, die Enrico Dandolo gehörten, ein flacher sàndolo mit abblätternder Farbe und altem, rissig gewordenem Holz. Der Bootsführer pumpte das Ruder, so schnell er konnte. Als eine leichte Brise aufkam, holten Calendar und der Bootsführer eine Stange hervor, die so lang war wie das Boot, und steckten sie in eine Halterung. Erst als sie aufrecht stand, wurde mir klar, dass es sich um einen niedrigen Mast handelte. Sie zogen ein schimmelig riechendes Segel unter einem Sitz heraus und takelten den Mast auf. Die Brise fuhr in das Segel und blähte es, aber als ich mich umdrehte und sah, wie wenig wir erst zurückgelegt hatten, schwand meine Zuversicht.
Andrea kauerte zusammengesunken im Heck, seine Augen groß und sein Körper verkrampft vor Angst, mit seiner gut gemeinten Idee alles falsch gemacht zu haben. Er schwieg, und auch wir sprachen ihn nicht an. Ich fing einen Blick Paolo Calendars auf, der ansonsten damit beschäftigt war, das Segel in den Wind zu halten: Auch er schien nicht zu wissen, was uns erwartete. Enrico hatte seinen Neffen sicherlich schon gefunden und die Wahrheit aus ihm herausgeholt. Was dann geschehen würde, war nicht vorherzusehen. Es konnte sein, dass Enrico erleichtert war und plante, das Geschäft mit Falier doch noch zu Ende zu bringen – oder dass er Pegno vor Wut etwas antat. Calendars besorgter Miene glaubte ich zu entnehmen, dass er eher das Letztere für wahrscheinlich hielt. Wir spähten angestrengt nach allen Booten, die aus der nördlichen Richtung zur Stadt herunterkamen, ob sich in einem davon vielleicht Enrico und Pegno befanden, aber wir entdeckten ausschließlich Fischerboote, in denen knorrige Männer saßen und versuchten, dem Meer ihren Lebensunterhalt abzuringen.
San Michele glich einer Festung, die im Wasser schwamm: die Grabsteine die Häuser der Bewohner und die Kirche die Burg; Murano hingegen bildete ein Gewirr aus kleineren Inseln, deren verschlungene Kanäle die rii und deren bunt gestrichene Fischerhütten die Paläste der großen Stadt nachzuahmen schienen. Sant Erasmo zur Rechten reckte einen dünnen Saum windzerzauster Pinien in den blauen Himmel, zwischen deren Stämmen der Sandstrand hindurchschimmerte. San Francesco del Deserto wiederum bestand nur noch aus Sand, ein bleicher, gewellter Rücken, der sich flach aus der Lagune hob, als habe jemand ein Stück aus der Wüste hierher verpflanzt.
Calendar informierte mich murmelnd über die Geografie des nördlichen Teils der Lagune. Bei Mazzorbo fuhren wir in ein Labyrinth aus gras- und baumbestandenen Inseln hinein, auf denen sich da und dort ein Fischerdorf aus wenigen Häusern zusammendrängte oder der ziegelrote Turm einer Kirche aus dem gelben Gras stach. So musste Venedig gewesen sein, bevor sie die unergründlichste Stadt der Welt geworden war.
Calendar und der Bootsführer holten das Segel ein und legten den Mast in den sàndolo zurück. Ich blickte in den Himmel und erkannte an seinem wärmer werdenden Blau, dass der größte Teil des Tages endgültig vorüber war. Hinter Andreas blassem Gesicht funkelte Venedig, die Kirchen und Paläste winzig klein aus der Entfernung, im golden verfärbten Wasser schwebend, das juwelenbesetzte Spielzeug eines Riesen, so schön, dass einem das Herz eng wurde, wenn man zu lange hinsah.
Das Boot tauchte in die gewundenen Kanäle der Inselwelt ein und umrundete Mazzorbo von Nordwesten her, eine flache, nahezu baumlose Insel mit verstreuten Hütten und einem kleinen Friedhof. Burano lag südöstlich davon, nicht weiter davon getrennt als durch einen Kanal, der die Breite des Canàl Grande hatte. Auf dem östlichen Ende der Insel winkten die knallig rot, blau und gelb gestrichenen Hütten eines weiteren Fischerdorfs; nach Süden hin, wo der Blick auf Venedig frei war, erhoben sich Pinien in einzelnen Gruppen und behüteten frei stehende Gebäude, die wenn schon nicht an Größe, so doch an Schmuck mit ihren mächtigeren Schwestern, den Stadtpalästen der Patrizier, konkurrieren konnten.
Andrea gab eine halblaute Anweisung, als Calendar und der Bootsführer ihn fragend ansahen, und wir glitten in einen extrem engen Kanal hinein, dessen Ufer mit hohem Gras bewachsen waren, und bogen gleich darauf wieder rechts in eine ebenso enge Wasserstraße. Tatsächlich bestand auch Burano wiederum
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