Die schwarzen Wasser von San Marco
wahrscheinlich eine reizvolle Torsituation mit Blick auf das in der Ferne glitzernde Venedig ergeben hätten, wenn man sie zurückgeschnitten hätte. Calendar hielt die Arme vor das Gesicht und brach durch das Gehölz, ohne anzuhalten. Ich hörte einen entsetzten Aufschrei und gleich danach das Aufspritzen von Wasser, wenn ein Mann in vollem Lauf hineinstürzt.
Als wir uns durch die Büsche gezwängt hatten, sahen wir zwei Männer, die nebeneinander im hüfthohen Wasser standen: Calendar und Enrico Dandolo. Enrico starrte den Polizisten an, als habe er ein Gespenst gesehen. Calendar hatte ihn am Kragen gepackt und eine Faust erhoben, aber sie hing noch immer in der Luft, ohne auf Dandolos Gesicht niederzusausen. Dandolo hatte ein langes, vor Nässe glänzendes Ruder in beiden Händen und hielt es ausgestreckt in die Lagune hinaus. Er riss seinen Blick von Calendar los und starrte wieder dort hinaus, wohin sein Ruder zeigte. Calendar folgte seinem Blick unwillkürlich. Ich tat es auch. Dann packte ich Andrea im Genick und presste sein Gesicht gegen meine Brust.
Keuchend zogen Calendar und Dandolo den Körper zusammen an Land. Er hatte mindestens ebenso lange im Wasser gelegen wie der, der für ihn ausgegeben worden war, an jenem Mittag vor vier Tagen beim Arsenal. Es hatte keines von skrupellosen Händen geführten Messers bedurft, dass sich die Fische und Krebse für ihn interessiert hatten, doch das bleiche, aufgedunsene Gesicht war noch zu erkennen.
»Ich war es nicht«, ächzte Dandolo, als er und Calendar den toten Pegno endlich an Land gezerrt hatten. Ich hielt Andrea fest, dessen Körper in meinen Armen von einem haltlosen Schluchzen geschüttelt wurde.
»Natürlich nicht«, knurrte Calendar und bleckte die Zähne. »Er war ja Ihre beste Ware.«
Mein Venezianisch reichte nicht für die weiteren Worte, die zwischen ihnen fielen. Schließlich wankte Dandolo beiseite und sank auf die Knie, während Calendar den leichten Mantel des Kaufmanns, den dieser abgelegt hatte, bevor er ins Wasser gewatet war, über den Leichnam breitete. Dann richtete er sich auf, starrte mich mit einem Ausdruck an, der mich samt dem Kind in meinen Armen zurückweichen ließ, und trat zu dem am Boden kauernden Dandolo hinüber. Sein Atem ging schwer.
»Enrico Dandolo«, keuchte er, »hiermit verhafte ich Sie.« Er holte tief Luft, und als er weitersprach, klang seine Stimme rau. »Auch wenn es niemandem mehr nützt.«
Letzter Tag
1
Vier Wochen später reisten wir ab. Jana erholte sich langsam, auch wenn die körperlichen Wunden besser heilten als jene, die der Verlust des Kindes in ihrer Seele hinterlassen hatte. Ich hatte einen überdachten Wagen erstanden, komplett mit zwei Mauleseln und einem kleinen, drahtigen Kerl von Wagenlenker, der ebenso gut in das Heck einer gondola gepasst hätte. Jana und Fiuzetta teilten sich das Gefährt, während ich nebenher ritt – zumeist ausgeschlossen von ihren Gesprächen, ein Mann, der bei Frauendingen nichts verloren hat. So blieb mir genügend Raum zum Nachdenken, und ich war nicht unglücklich darüber.
Ich würde nun doch noch ein letztes Mal zum Vater werden, auch wenn ich nicht der leibliche Vater war und die Frau, die ich liebte, nicht die leibliche Mutter. Ich horchte auf dem langweiligen Weg über die gepflegten Handelsstraßen der Po-Ebene tief in mich hinein und stellte zu meiner eigenen Überraschung fest, wie wenig mich diese Tatsache bekümmerte. Wenn ich Kummer verspürte, dann mehr Fiuzettas wegen, die das Kind in ihrem Leib mehr liebte als ihr eigenes Leben und für die die Reise nach Norden nur der lange schreckliche Weg bis zu jenem Tag war, an dem sie das Kind in Schmerzen gebären und dann für immer fortgeben würde. Ich hatte ihr angeboten, sie in meinem oder in Janas Haus zu beschäftigen, aber sie wollte nichts davon hören. Ihr Zuhause war die Stadt in der Lagune, und sie wusste instinktiv, dass sie an allen anderen Orten der Welt unglücklich sein würde.
Ich glaube, Jana war insgeheim froh über diese Entscheidung: Fiuzetta, die sie ungeachtet dessen liebte wie eine Schwester, ständig vor Augen zu haben – niemals hätte es ihr das Gefühl gegeben, die Mutter des angenommenen Kindes zu sein. Ich versuchte nicht, Fiuzetta davon zu überzeugen, dass sie das Kind behalten könne, wenn sie in unserem Gesinde aufgenommen würde und sich nicht um Brot und Unterkunft sorgen musste. Ihr Entschluss, das Kind fortzugeben, stand fest. Außerdem wäre es mir
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