Die schwarzen Wasser von San Marco
aus mehreren kleineren Inselchen. Andrea zeigte auf eine Stelle, an der das hohe Gras gemäht war und ein einfacher hölzerner Landungssteg einen Schritt weit in den Kanal hinausragte.
»Das Landhaus meines Vaters hat ein Grundstück zum offenen Wasser hin«, sagte Andrea endlich. Es war der erste zusammenhängende Satz, seit wir von Enrico Dandolos Haus abgelegt hatten. »Normalerweise landet man dort; es gibt eine kleine, künstlich angelegte Bucht. Hier ist quasi der Hintereingang.« Er hatte Latein gesprochen, damit ich ihn verstehen konnte. Offenbar hatte Calendar auch damit keine Mühe.
»Noch jemand hat den Hintereingang benutzt«, knurrte Calendar und deutete auf das abgenutzte Boot, das halb auf das trockene Land hinaufgezogen worden war. Es war kleiner als unseres und besaß keinen Mast. Unter seinem Kiel war das Gras nass und der Bauch des Bootes selbst noch feucht. »Dandolo hat das nächstbeste Boot genommen. Er hatte es eilig.«
Wir ließen den Bootsführer beim Landungssteg zurück. Jemand hatte sich halbherzig darangemacht, dem wild wuchernden Gras und den Büschen eine dem menschlichen Formempfinden näher liegende Gestalt zu geben, und sich als Gärtner probiert, aber die Versuche waren entweder zum Erliegen gekommen oder noch nicht weit genug gediehen. Ein mit Terrakottafliesen gepflasterter Weg führte zu einer gedrungenen, schlichteren Version eines venezianischen ca’ und erweiterte sich vor dem Eingang zu einem Rund, in dessen Mitte die übliche Zisterne stand. Die Fliesen waren teils halb im Boden versunken, teils ragten ihre Kanten heraus. Wie es schien, wurde das Landhaus nicht oft benutzt; aus unterschiedlichen Gründen hatten beide Brüder Dandolo, Enrico und Fabio, nicht genügend Zeit zur Muße.
Die Tür war offen und gewährte uns den Zutritt in einen mit Fresken verzierten Saal. Die Architektur wirkte, als habe man die beiden oberen Geschosse eines Stadtpalastes abgeschnitten und hierher auf den Boden gesetzt. Das Erdgeschoss mit seinem Lager und den Wohnräumen des Gesindes fehlte. Das Haus war zur Muße und Zerstreuung gedacht, nicht zur Arbeit. Andrea öffnete den Mund, um zu rufen, aber Calendar winkte knapp mit einem Finger, und der Junge schwieg.
Das Haus war rasch durchsucht. Der Saal erstreckte sich über die ganze Tiefe des Erdgeschosses, wenn auch nicht über die gesamte Breite; Türen führten rechts und links zu den engen, muffigen Kammern des Gesindes. Eine zweiflüglige Tür öffnete sich in ein enges Treppenhaus, das mit einer Biegung ins Obergeschoss führte. Wir fanden leere Zimmer, die als Schlafräume dienen mochten, wenn das Haus bewohnt war. Es fehlte sowohl an Möbeln wie an sonstigen Einrichtungsgegenständen. Wer hier herausfuhr, um eine Zeit lang abseits der Hektik Venedigs auszuruhen, fuhr mit seinem gesamten Hausstand. Man wollte das täglich Vertraute um sich haben.
Auch sonst war das Haus leer, keine Menschenseele war zu sehen. Andrea zuckte mit den Schultern, sichtlich besorgt. Wir durchquerten den Saal und stießen die Fensterläden auf, die die drei Bogenfenster auf der Rückseite des Hauses verschlossen hatten. Goldenes Sonnenlicht fiel herein und offenbarte den Staub, der sich im Saal abgelagert hatte. Unsere Fußspuren führten kreuz und quer hindurch, und ich konnte Calendar ansehen, dass er sich darüber ärgerte, dass wir alle eventuellen weiteren Spuren zerstört hatten. Das Grundstück der Dandolos zog sich in einem weiten Bogen zum Ufer hinunter. Auch hier waren die Spuren einer halbherzigen gärtnerischen Umgestaltung zu sehen. Hart am Ufer stand eine große, weit ausladende Pinie, leicht schräg, als seien ihre Wurzeln bereits in dem trügerischen Grund abgesackt.
»Das ist die kleine Bucht«, sagte Andrea. Unwillkürlich hatte er geflüstert. Calendar starrte mit zusammengekniffenen Augen hinaus in das Glitzern des Wassers. Er schien etwas zu sehen, das meinen Augen verborgen blieb. Plötzlich stieß er sich vom Fenster ab.
»Was ist los?«
»Jemand ist im Wasser!«, rief er, während er schon zur Vordertür eilte. »Ich habe die Wellen gesehen.«
Ich sah Andrea an und lief dann Calendar wortlos hinterher. Der Junge hielt mit mir Schritt. Calendar machte keine Anstalten, auf uns zu warten. Er rannte mit weit ausgreifenden Schritten um die Hausecke herum und sprang durch das halbhohe Gras des Gartens. Wir pflügten ihm ungeschickt hinterher. Die Bucht war durch fast mannshohe Büsche dem Einblick vom Haus her verborgen, Büsche, die
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