Die schwarzen Wasser von San Marco
Pegnos ausgeben konnte – die eines unglücklichen jungen Prinzen aus einer Stadt am Schwarzen Meer. Bei dir war es genau anders herum: Du hattest Pegnos wirkliche Leiche, und die musstest du verschwinden lassen, sonst hätte man den Messerstich gesehen und angefangen nachzuforschen. Bestimmt ist es dir leicht gefallen, mit dem Geld deines Vaters ein paar üble Kerle dazu zu überreden, mit einem großen eingewickelten Paket und ein paar Steinen daran in die Lagune hinauszurudern und den Leichnam über Bord zu werfen. Wie hast du es getan, Andrea? Von vorn? Hinterrücks?«
Andrea blinzelte. Er war sichtlich bleicher geworden. Sein Mund arbeitete an einer Erwiderung, aber sie wollte ihm nicht über die Lippen kommen.
»Es ist schwierig, einen Menschen von hinten zu erstechen, wenn man es nicht gewohnt ist. Man trifft nicht das Herz, oder die Klinge gleitet von den Rippen ab, und alles, was dabei herauskommt, ist ein leicht verletzter Gegner, dem die Todesangst Riesenkräfte verleiht. Nein, ich nehme an, du standest vor ihm und hast mit dem Messer gespielt, wie du es immer tust, wenn du nervös bist. Hat er dich besucht oder du ihn? Haben seine Klagen über die Schwierigkeit des Geschäftslebens dich in Rage versetzt, weil für dich nur Nebensächlichkeiten sind, was für Pegno unlösbare Probleme darstellten? Wie oft musstest du dir sein Lamento schon anhören, bevor es dir zu viel wurde; wie oft hast du ihm Ratschläge erteilt, wie er sich verhalten solle? Ging dir plötzlich auf, wie verkehrt alles eingerichtet war: du im Kloster, während dein Bruder, der Versager, nicht einmal mit den einfachsten Anforderungen des wirklich übersichtlichen Geschäfts deines Onkels zurechtkam?«
»Ich will …« begann Andrea.
Ich schnitt ihm das Wort ab. »Auf einmal lag die Lösung vor dir, nicht wahr? Mit Pegnos Tod wärst du der älteste Sohn von Fabio Dandolo. Dein Vater würde dich aus dem Kloster freikaufen, und du könntest endlich deiner Bestimmung folgen, die dein starrköpfiger Vater nie erkannte. Pegno war mit einem Mal das geeignete Werkzeug dafür – ein Werkzeug, dessen Zweck einzig und allein darin liegt, zum rechten Moment beseitigt zu werden. Und du nutztest den Augenblick. Wie war sein Gesichtsausdruck, als deine Klinge sein Herz durchbohrte? War er überrascht? Weinte er? Versuchte er sich an dir festzuhalten, während er zu Boden sank und das Leben aus seinem Körper rann? Was glaubst du, hat er gesehen in den letzten Momenten seines Lebens, das sein jüngerer Bruder ihm genommen hat? «
Ich schwieg, weil ich merkte, wie meine Stimme überschnappte. Die Männer im Lager drehten sich um und machten sich dann wieder an ihre Arbeit. Unwahrscheinlich, dass sie Latein verstanden; doch dass sich Andreas Gesprächspartner in ein zornerfülltes Schreien hineingeredet hatte, erkannten sie. Sie duckten sich und spitzten gleichzeitig die Ohren, damit ihnen nichts entging. Ich hatte einen Geschmack im Mund, als sei mir die Galle aufgestiegen. Meine Hände schmerzten, so sehr hatte ich sie zu Fäusten geballt. Andrea war einen Schritt zurückgewichen. Er schüttelte mit hastigen kleinen Bewegungen den Kopf.
»Dein Onkel wollte Pegno als Sklaven an einen Sodomiten verkaufen, um ein Geschäft zu Ende zu bringen, in das er sich verwickelt hatte – er ging davon aus, dass niemand ihn vermissen würde. Du wolltest Pegno beseitigen, um seine Stelle einzunehmen und endlich das verhasste Kloster verlassen zu können – du bist sein Bruder, du weißt , dass niemand Pegno vermisst. Wie es scheint, warst du schneller als dein Onkel. Ich weiß nicht, wer von euch beiden mir mehr zuwider ist, du oder Enrico. Ich bin sicher, ihr werdet euch in der Hölle wiedersehen.«
Andreas Gesichtszüge zerbrachen, als hätte ich ihn geschlagen, und ich musste mir wieder in Erinnerung rufen, dass er noch ein Kind war. Seine Augen funkelten im Halbdunkel des Lagergeschosses vor Tränen; ich konnte nicht sagen, ob es Tränen der Wut oder der Scham waren.
Ich drehte mich um. »Ich habe keine Beweise gegen dich in der Hand. Die irdische Gerechtigkeit kann dir nichts anhaben. Du musst mit dieser Sache in deinem Gewissen leben, bis deine eigene Stunde gekommen ist. Dein Onkel allerdings kommt so nicht davon. Er hat sich nach Burano geflüchtet, aber wir werden ihn holen. Wenn sie ihm den Prozess gemacht und ihn gehängt haben, kannst du sein Geschäft in das Haus deines Vaters eingliedern. Wer weiß, vielleicht übergibt er dir die ganze
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