Die schwarzen Wasser von San Marco
beiseite. »Sollen wir das glauben?«, flüsterte ich.
Calendar zuckte mit den Schultern. Er sah unzufrieden aus. Dann irrte sein Blick plötzlich ab, und er verneigte sich. In einer halb geöffneten Tür des Saals stand eine elegant gekleidete Frau und spähte zu uns herein. Ich folgte Calendars Beispiel. Halb verborgen hinter der Tür, nickte uns die Frau zu, ohne näher zu treten. Mich überkam plötzlich das Gefühl, in einem Gefängnis zu sein, und einer der Insassen spähte halb neugierig, halb vorsichtig aus seiner Zelle heraus. Enrico Dandolos Gattin verhielt sich den Regeln gemäß, die in der hiesigen Gesellschaft für Frauen galten. Ich fragte mich, ob es Calendar schmerzte, dass er in seinem eigenen Heim nicht einmal einen zweiten Raum besaß, in den seine Frau sich zurückziehen konnte, um wenigstens den Anschein der hier gebräuchlichen sozialen Würde zu wahren. Neben Calendars Gattin hatte ich in Venedig nur mit zwei anderen Frauen der Gesellschaft Kontakt aufnehmen können: Clara Manfridus, die für sich ohnehin nur ihre eigenen Regeln akzeptierte, und Rara de Jadra, die, selbst wenn sie keine Verbrecherin gewesen wäre, auf einer Stufe gestanden hatte, die sie nur knapp über die Dienstboten, Lastträger und Hilfsarbeiter erhob.
Meine Gedanken waren müßig. Calendar formulierte in höflichem, zurückhaltendem Ton eine Frage. Dandolos Frau dachte einen Augenblick nach, dann gab sie dem Dienstboten einen Wink und schloss leise die Tür. Der Dienstbote lieferte die höfliche Antwort auf Calendars Frage.
»Dandolo ist auf Burano«, knurrte Calendar. »Die Familie besitzt dort ein Landhaus. Er müsse eine Erschöpfung auskurieren.«
»Er ist abgehauen, um die Sache auszusitzen«, sagte ich.
Calendar nickte. »Wir werden ihn an den Haaren aus seinem Landhaus ziehen, wenn es sein muss.«
Er gab mir mit dem Kopf ein Zeichen, und wir trabten die Treppe wieder hinunter. Calendar war über die Verzögerung aufgebracht. Er stapfte über den unebenen Boden, ohne die Arbeiten im Lagergeschoss zu beachten. Der Durchmesser des frisch ausgehobenen Trichters war exakt so groß wie die Kreidestriche an der Wand, die den künftigen Durchbruch markierten. Eine kleine Gestalt stand jetzt dort, hielt eine Öllampe in der einen Hand und musterte die Beschaffenheit der Mauer. Ich sah, wie sie mit einem schmalen Messer in der anderen Hand in den Ritzen der Backsteine herumstocherte. Mörtel bröselte heraus. Die Gestalt schien völlig vertieft in ihre Tätigkeit; ein Mensch, der in dem, was er sich vorgenommen hat, vollkommen aufgeht. Das Messer glitzerte im goldenen Schein der Öllampe. Ich stand da wie erstarrt.
»Andrea Dandolo!«, rief ich in scharfem Ton. Die Gestalt zuckte zusammen und drehte sich um. Das Lämpchen beleuchtete eine Hälfte des schmalen Jungengesichts und tauchte die andere ins Dunkel. Andrea zog die Augenbrauen hoch. Er schien einen Moment nachdenken zu müssen, wer ich war. Es war blanke Schauspielerei, und ich fühlte, wie der Ärger wieder in mir aufkochte. Calendar öffnete die Eingangstür und drehte sich um. Er warf Andrea einen flüchtigen Blick zu und sah mich dann erwartungsvoll an.
»Ich komme gleich«, sagte ich leise zu ihm, ohne die Augen von Andreas Gesicht abzuwenden. Ich hörte, wie die Tür zuklappte. Aus der Miene des Jungen wich langsam die künstliche Überlegenheit.
»Ich hätte öfter beten sollen, dann hätte Gott die Blindheit vielleicht eher von meinen Augen genommen«, sagte ich auf Latein. »Wie oft betest du am Tag, frater Andrea? Die vorgeschriebene Anzahl – zu jeder Messe?«
»Ich bin kein Bruder, ich bin Novize.«
»Ein kleiner Unterschied, möchte man meinen – es sei denn, das Novizentum erfüllt sich nicht. Zum Beispiel, wenn man das Kloster vorzeitig verlässt.«
Andrea gab sich einen Ruck und schritt um den Trichter herum, bis er auf Armlänge entfernt von mir stand. Ich deutete auf das Messer. »Es wird stumpf, wenn du damit die Standfestigkeit der Mauer überprüfst.«
Er zuckte mit den Schultern.
»Macht nichts?«, fragte ich. »Hat es seine Schuldigkeit bereits getan?«
»Ich habe eine Menge Arbeit, wenn du erlaubst«, erwiderte er mit eisiger Höflichkeit.
»Das kann ich mir vorstellen.« Ich starrte ihn an, bis er den Blick wieder senken musste. Er hätte einfach davongehen können und sich seiner Arbeit widmen, aber er blieb stehen. Ich sah, dass sein Atem schnell ging.
»Dein Oheim Enrico hatte eine Leiche zur Hand, die er als die
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