Die schwarzen Wasser von San Marco
froh, mein eigenes nicht sehen zu müssen. Der Becher Wein vor mir war unangetastet; Manfridus’ verschwommener Blick verriet, dass er versucht hatte, in seinem Becher Stärkung zu finden. Moro hatte sich, ohne um Erlaubnis zu fragen, neben Manfridus auf der Bank niedergelassen und sich ebenfalls einen Becher Wein eingeschenkt. Manfridus hatte ihn gewähren lassen, als sei er nicht der Sklave, sondern der Freund des Hausherrn, und womöglich traf das auch zu. Die beiden sprachen nicht, und auch ich verspürte nicht die geringste Lust dazu. Sie saßen mir gegenüber und versuchten meinen Schmerz und meine Angst zu teilen. Ich war ihnen dankbar, aber außerstande, sie das wissen zu lassen.
Als ich nach Marias Tod in der Stube gesessen hatte, nicht mehr als die leere Hülle eines Menschen, während drüben im Schlafzimmer zwei Körper lagen, deren erloschene Seelen auch die meine mitgenommen hatten, als ich zusammengesunken auf der Bank hockte und für den Moment keine Tränen mehr in mir waren, hatte sich die Tür geöffnet. Mein Freund Hanns Altdorfer, damals einer der Stadtschreiber, war hereingekommen. Wortlos setzte er sich neben mich. Er hatte das Gesinde benachrichtigt. Die Männer und Frauen traten nach ihm ein, zögernd und scheu. Später erinnerte ich mich, dass es Brauch war, jedem vom Gesinde aus dem Nachlass der verstorbenen Herrin etwas zu schenken. Damals war es umgekehrt; jeder von ihnen brachte etwas herein und legte es vor mir auf den Tisch: eine gepresste Blume, eine naiv bemalte Tonfigur, einen polierten Stein, einen Armreif aus glatten Holzkugeln. Es waren ihre Schätze, und doch war ich unfähig, ihnen zu danken. Hanns Altdorfer nickte ihnen an meiner Stelle zu und drückte jedem eine Münze aus seiner eigenen Börse in die Hand. Mein Gesinde war groß; der Tag kostete ihn ein kleines Vermögen. Auch ihm blieb ich meinen Dank schuldig. Ich wünschte ihn mir jetzt an meiner Seite, aber als ich zu Manfridus und Moro hinüberblickte, wusste ich, dass ich mich auch hier unter Freunden befand. Die Schätze unseres Gesindes waren zusammen mit Maria begraben worden.
Die Gäste, die Manfridus außer uns beherbergte, stolperten mit verschlafenen Gesichtern herein und sandten ihre Dienstboten in die Küche, um etwas zu essen zuzubereiten. Sie warfen uns nur kurze Blicke zu; wir sahen aus wie drei Zecher, die über Nacht an ihrem Weinkrug kleben geblieben waren. Wenn einer von den anderen Gästen die Unruhe der Nacht mitbekommen hatte, verlor er kein Wort darüber. Die Sonne fiel durch die kleinen Fenster und malte strahlende Vierecke auf den Boden und die Tische und Bänke, die entlang der Außenwand standen. Der Tag wurde so schön, wie es das Morgengrauen versprochen hatte, im Hof des Dogenpalastes, vor unendlich langer Zeit.
Als Clara Manfridus an unseren Tisch trat, sah ich auf. Sie hatte sich einigermaßen hergerichtet, um keine erstaunten Blicke unter den Gästen zu provozieren. Ich spürte, wie meine Furcht stieg, als sie seufzte und auf mich heruntersah.
»Gehen Sie hinauf«, sagte sie sanft.
»Wird sie … ist sie …?«
»Nein, die Lage ist unverändert. Die Hebamme sagt, wir können weiterhin nichts tun, als zu beten. Sie wird wieder in ihr Haus zurückkehren. Fiuzetta bat darum, hier bleiben zu dürfen. Ich lasse ihr ein Lager in Ihrer Kammer richten.« Sie drückte die Hände ins Kreuz und ächzte. »Gehen Sie hinauf. Vielleicht hilft es etwas, wenn Sie da sind.«
»Clara«, sagte ich und sagte es gleichzeitig zu Moro und Michael Manfridus, »ich habe einen schrecklichen Fehler begangen. Als Jana es mir sagte … als sie mir mitteilte, dass sie schwanger sei …«
»Gehen Sie zu ihr hinauf. Sie steht auf der Schwelle zwischen Tod und Leben. Da gibt es keine Fehler. Da gibt es nur die Liebe.«
Ich ging, bevor ich vor den anderen Gästen erneut in Tränen ausbrach.
Jana lag noch immer so da wie zuvor. Fiuzetta saß neben ihr auf dem Bett und knetete eine ihrer Hände, Julia, voll hilfloser Beflissenheit, versuchte Janas Haar zu kämmen und aufzustecken. Ich setzte mich auf die andere Seite des Bettes und sah meiner Geliebten ins Gesicht. Es hatte sich kaum verändert, und wenn doch, dann zum Schlechteren. Ihre Wangenknochen schienen ausgeprägter als vorher, ihre Lippen dünner, und ich hatte das Gefühl, die Zähne zeichneten sich dahinter ab. Ich wagte nicht, mir einzugestehen, wie sie wirklich aussah. Ich griff nach ihrer anderen Hand. Die Finger waren eiskalt. Ich begann sie
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