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Die schwarzen Wasser von San Marco

Die schwarzen Wasser von San Marco

Titel: Die schwarzen Wasser von San Marco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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leuchteten, zwei schimmernde Punkte, die scheinbar körperlos in der Dunkelheit schwebten. Nach einem Moment erkannte ich, dass sie voller Tränen standen.
    Ich wich vor Manfridus zurück und spürte, wie mir das Blut aus dem Gesicht schoss.
    »Was ist … Ist etwas mit Jana … ist etwas … passiert?«
    Manfridus presste mit einer unglücklichen Miene die Lippen zusammen und schob die Oberlippe vor. Er räusperte sich.
    »Es begann gegen Mitternacht«, sagte er dann tonlos. Den Rest hörte ich schon nicht mehr. Ich wirbelte herum und rannte zum Treppenhaus hinüber. Manfridus hatte auf der letzten Stufe jedes Stockwerks ein kleines Talglicht aufgestellt, das die Treppe kläglich erhellte. Ich flog über die Stufen hinauf, stieß ein Talglicht dabei um, die heiße Flüssigkeit spritzte bis in mein Gesicht. Auf der Treppe, die zum Dachgeschoss und zu unserer Kammer hinaufführte, saß Clara Manfridus, eines der kleinen Talglichter neben sich. Sie hatte die Arme um die angezogenen Knie geschlungen und ihren Kopf darauf gebettet. Sie fuhr hoch, als sie mich heraufstürmen hörte. Ihr Haar war aufgelöst und wirr und ihr Gesicht geschwollen vom Weinen. Ich blieb wie vom Donner gerührt stehen. Sie streckte eine Hand nach mir aus und begann erneut zu weinen.
    »Madonna Santa, Madonna Santa« , flüsterte sie.
    Meine Beine fühlten sich kraftlos an. Ihr Flüstern dröhnte im stillen Haus, dröhnte in meinem Kopf. Übelkeit überkam mich. Ich überwand die restlichen Stufen in ein paar Sätzen, drückte mich an ihr und ihrer ausgestreckten Hand vorbei, als wäre sie aussätzig, und stolperte auf Janas und meine Kammer zu.
    Die Tür sah nicht aus, wie ich sie in Erinnerung hatte. Ich kannte sie dennoch. Sie gehörte zu meinem Haus in Landshut und führte in das Schlafzimmer, das Maria und ich bewohnt hatten, vor zehn Jahren, vor tausend Jahren. Ich erinnerte mich an den Moment, an dem sich diese Tür unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt hatte; das dunkle Eichenholz, die beiden fein gearbeiteten Kassetten aus hellerem Wurzelholz, die darin eingelassen waren, das schwarz-eiserne Kästchen des Schließmechanismus, die matt schimmernde Klinke. Eine weinende Hebamme hatte mich dorthin geführt und die Tür für mich geöffnet.
    Ich hatte das Gefühl, meine Eingeweide seien aus Eis und meine Beine aus Wasser. Ich konnte das Blut riechen
    – das Blut, das viele Blut
    und die Kräuter und den Dampf des heißen Wassers und den Schweiß und mein eigenes Entsetzen.
    Der Bettkasten schwamm förmlich im Blut, ebenso der Holzboden davor. Leintücher waren zu nassen roten Klumpen geschlagen, aber es war zu viel, und den Hebammen war keine Zeit geblieben, die Stätte besser zu säubern. Die Hitze war erstickend. Im Inneren des Bettkastens war es dunkel. Ich konnte ein totenblasses Gesicht ausmachen, das inmitten der zerwühlten Betten lag, ein eingewickeltes Bündel neben sich, durch dessen Tuch ebenfalls das Blut gesickert war.
    Die Hebammen lagen auf den Knien und flüsterten Gebete, die Hände noch blutverschmiert und die Gesichter rot aufgedunsen vor Anstrengung. Meine Füße schlurften über den Boden und trugen mich näher an den Bettkasten heran. Gedämpft hörte ich die gemurmelten Gebete durch das panische Schreien in meinem Kopf. Ich sah in das leblose, schweißnasse Gesicht in den Kissen, dessen Lippen zerbissen und dessen Wangen zerkratzt waren. Das Haar klebte daran wie feuchte Farbe. Die Züge waren bereits gezeichnet vom Tod, den ich auf der anderen Seite des Bettkastens zu sehen glaubte, sein ernstes, bleiches Gesicht auf die Frau zwischen uns gerichtet. Er wartete darauf, dass die fahrigen Atemzüge mit einem letzten Seufzer verloschen. Mir war, als packte mich etwas an der Kehle, und ich hörte ein schmerzvolles Ächzen, das sich meiner Brust entrang. Tränen schossen mir in die Augen.
    »O Gott, o nein«, schluchzte ich, »nein, bitte nicht!«
    Ich stand vor der Tür im Dachgeschoss der Herberge von Michael Manfridus. Maria war gestorben. Das Kind war gestorben. Ich war gestorben. Die Zeit ist ein Heiler. Der Schmerz ist ein Wolf. Zehn Jahre sind nichts für ihn; ein kleiner Sprung nur.
    Ich drückte die Klinke hinunter und trat ein.
    Mindestens ein Dutzend Kerzen brannte und fast ebenso viele Talglichter. Sie machten den Raum kaum heller, aber heißer. Es roch wie in einer Kirche, nachdem die Besucher des Trauergottesdienstes alle Lichter entzündet haben. Jana lag auf dem breiten Bett, unter einer

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