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Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Titel: Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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entwickelten die Kunst der leisen Subversion. Mit Hans Böhm, Kurt von Rudloff, Wilhelm Hübner, Ingrid Wenzkat, Emil Ulischberger, Siegfried Thiele, Margarete Wagner (»Git«), Heinz Weise, Gottfried Schmiedel, Fritz Löffler (»Lö«) verfügten die Dresdner Blockparteizeitungen über eine Kunst- und Musikkritik, die ihresgleichen suchte und das Pendant des Ostens zur Kulturredaktion der »Süddeutschen« unter Joachim Kaiser war. Ausharren: So hieß der vergiftete Honig, die Speise des Überlebens. Eine Redakteurin harrte am Telefon aus, nachdem sie versehentlich aus der »fruchtbaren« eine »furchtbare« Zusammenarbeit gemacht hatte; Vater beschloß, die Redaktion nie wieder zu betreten, und wurde Hilfspfleger im Krankenhaus Dresden-Friedrichstadt, auf der Krebsstation, wo nur wenige arbeiten wollten; die Patienten bekamen von den Bestrahlungen Wunden, in denen die Knochen freilagen. Der Chefredakteur der »Sächsischen Neuesten Nachrichten«, Morgenstern, kehrte die Arbeitsflucht großzügig unter den Tisch. So konnte der junge Ex-Volontär in Leipzig Medizin studieren. Er träumte davon, eines Tages mit seiner Tochter über die Prager Straße zu flanieren und mit ihr einkaufen zu gehen, womöglich sogar einen der begehrten Plätze des Eiscafés zu ergattern. Vom Bummeln auf der Prager Straße träumten viele Dresdner, es war ihre Vorstellung von Luxus. Das »Haus des Lehrers« an der Nordflanke der Magistrale wurde nie gebaut, die Gelder flossen in den Braunkohleabbau der Lausitz. Vielleicht dachte Vater daran, im Moment der Aufnahme, die ihn so nachdenklich zeigt. Nun ging er mit mir. In dieser hellen Hose mit Bügelkanten, der dunklen, großknöpfigen Jacke wirkt er wie ein Marineoffizier oder Schiffsarzt; noch in der Generation seiner ärztlichen Lehrer hatte das Anmustern zum guten Ton gehört, und in Dr. Sperling, Fahrensmann unter dem cholerischen Kapitän, der auch an einer Londoner Klinik als ChirurgSir Lancelot Spratt wirkte, erkannten sich Vater und seine Freunde wieder. »Doctor at Large« und »Doctor in the House« genoß eine Verehrung wie sonst nur noch die »Olsenbande«, »Oh, diese Mieter!« oder »Das Krankenhaus am Rande der Stadt«. Oktober 1972, ein Foto auf Orwo-Schwarzweiß, ein Augenblick gebannte Vergangenheit mit zuviel Alltag und Beiläufigkeit, zuviel Gefangenschaft, um mich unberührt zu lassen.

Lahmanns Sanatorium 1994

8
    Hauptbahnhof: Wartete man auf die 11, stand man zwischen oberirdischen Gleisbrücken, sah auf das flache Maul des Osteingangs und auf die Gagarinstraße, von der sich die Bahn nähern würde, an der Russischen Kirche vorbei, der Technischen Universität, die einen Zinnenkranz auf einer Art von Dresdner Sperlingsbergen bildete, tausendfenstrigen Hochhäusern, der diktatorischen Fassade der Hochschule für Verkehrswesen. Die 11 querte die Elbe über die Marienbrücke, ließ die Yenidze-Zigarettenmoschee links liegen, das Kraftwerk Mitte hinter sich, Friedrichstadt, Spirituosenfabrik Bramsch, das saurierhafte, aschbraune Dresdner Kühllager mit Fassadenrelief »Im ersten Jahr des Fünfjahrplans erbaut«; fuhr von der Alt- in die Neustadt. Anton- / Leipziger Straße werden wir in die 4 umgestiegen sein, ein gelber Gothawagen, keine rotweiße Tatrabahn. Die 4 befuhr von Weinböhla bis nach Pillnitz die längste Straßenbahnstrecke Europas, man brauchte, wenn ich mich recht erinnere, gut zwei Stunden für die dreißig Kilometer lange Fahrt. Geräusche, Gerüche – im November die feuchtigkeitsschweren Mäntel der Pendler vom und zum Industriegebiet, der Angestellten des Arzneimittelwerks an der Leipziger Straße, der Geruch nach nassem Filz, Tabak und Wild, den die Uniformen der Offiziere beimischten, die vom Puschkinplatz kamen, vielleicht aus Holzgroßhändler Grumbts Prachtvilla, Kulturzentrum der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft; Türen auf, Türen zu, über dem Ausstieg der Gothawagen ein Schriftzug »Halt! Ab Abfahrtsignal nicht aussteigen«, Schiebetüren, die ein gequältes maschinelles Weinen von sich gaben, wenn sie, bedrängt von ungeduldigen Fahrgästen, sich öffneten oder schlossen; die heftig das Feierabendschweigen zertrennende Klingel, ein Licht in Form eines orangefarbenen Zapfens leuchtete über der Tür auf, bevor die Bahn anruckte und sich, aus ihrer vorläufigen Ruheposition an einer Haltestelle, wieder in Fahrt setzte in den breitgewalzten, längst aus ursprünglicher Festigkeit, gewissermaßen dem Hochdeutsch der Trassenbaukunst, in einen

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