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Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen

Titel: Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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stromauf schinden werden, den Slogan »Elberudern macht hart« eingravieren, wird Zuträger für die Trödelmärkte, in die die mächtige, säulengestützte Flanke desArzneimittelwerks, über den Wellenbrecher der »Pier 15, Best in Music, Club & Lounge«, ausrollt.
    … von der Straße, als wäre sie ein Lebewesen, zugesprochene Bilder, die ich in den Fotografien Bernd Heydens vom Prenzlauer Berg wiederfinde: Der Kriegsinvalide, der, von hinten aufgenommen, einen Wagen mit Kohlen zog, an einem über die Schulter gelegten, an der Deichsel befestigten Riemen, und den bis zum Knie fehlenden linken Unterschenkel (das Hosenbein über den Amputationsstumpf nach oben geschlagen und festgenäht) durch Krücken ersetzt hatte, die er etwas breiter führte, als er sie ohne Last geführt haben würde, um den Wagen, wenn der durch den Schwung des Körpergewichts nach vorn gerissen wurde, nicht in die Krücken zu bekommen, wobei er riskierte, daß die Deichsel, die er ja nicht bremsen konnte, ihm mit dem Schwung des Vorwärtszugs ins Kreuz stieß, so daß es seines ganzen Geschicks bedurfte, die Last voranzubewegen und gleichzeitig der Deichsel auszuweichen, was ihm nicht immer gelang, da das nur durch einen neuen Schwung, gefolgt vom erneuten Nachzerren des Wagens, möglich gewesen wäre, was durch die kinetischen Gesetze der noch ablaufenden Mechanik, des noch auszuwiegenden alten Schwungs, verhindert wurde, so daß der Invalide seine Technik änderte, die Krücken nur ganz kurz setzte und den Wagen dadurch mit knappen Vorwärtsrucken statt mit ausholenden Raumgewinnen bewegte, wodurch die Deichsel, mit unzähligen Bindfäden fixiert, seinen Rücken nicht mehr erreichte, sondern sich, angehoben vom Riemen, vor dem Knuff ins Jackett nach oben bog.
    Versammlungen in den Kirchen. Parkas und Kerzen. Gebete: und erhöre uns. Begegnungen. Ich besuchte Christian Lehnert, der Dichter werden wollte. Wir hatten uns im Wehrlager Schirgiswalde kennengelernt. Er sagte, er fühle sich, so als Dichter, den Musikern zugehörig; ich sagte, ich fühle mich, so als Dichter, den Malern zugehörig. Er kam mit geschorenem Kopf, blaß, intellektuell wirkend, der Mund leicht verkniffen, wie auf der Fotografie von Frank Höhler noch zu sehen, im Suhrkampbuch »Der gefesselte Sänger«. Christian wurde Bausoldat, schippte, im ehemaligen »Kraft durch Freude«-KasernenkoloßProra stationiert, am Hafen von Mukran; ich kam zur Panzertruppe und trug, kein bißchen stolz, die rosarote Waffenfarbe, auch sie hatte die NVA vom Dritten Reich übernommen. Christian war tief gläubig (ich sollte schreiben: Er ist, nach einem Studium der Orientalistik, Religionswissenschaften und Theologie wurde er Pfarrer, arbeitet inzwischen an der Evangelischen Akademie zu Wittenberg); sein Glaube machte mich nachdenklich, denn mit der Welt der Bibel und der Kirche war ich bisher nur in den Weihnachtslesungen meiner Mutter in Kontakt gekommen. Ich weiß nicht, ob ich ihn noch in der Rehefelder Straße besuchte, wo er aufgewachsen war, in einem Bauhausblock in der Nähe des Sachsenbads. Das Pieschen vor der Revolution ist mir in einzelnen Bildern in Erinnerung geblieben: die heruntergekommenen Häuser, Aschearchen, wie sie von Rostock bis Suhl, von Magdeburg bis Görlitz typisch waren, grüne Fenster (jenes Wassergrün zwischen den Verdunklungen, wie es in den Erzählungen der Kriegsgeneration immer wieder vorkam, wie es, als »Heiligenreifen« auf den Gehsteigen, die schwarzlackierten Gaslaternen entließen, die fluoreszierenden Erkennungsplaketten an den Mänteln, die Scheinwerferschlitze auf den wenigen noch fahrenden Autos); vom Craquelé der Jahre rissige, stadteinwärts von Lampen, stadtauswärts mehr und mehr von nackten Glühbirnen erhellte Zimmerdecken mit wandernden Schatten; Lieferwagen, die weißglänzende Toilettenbecken aus dem VEB Sanitärporzellan abholten und auf eine Fähre verluden, wo sie wie eine Sammlung regloser Schwäne über die Elbe zum Schlachthof trieben.

Kaufhaus Prager Straße 2010

Die Ostdeutschen hatten Hunger, kaum zu bändigenden Freßgelagehunger nach Leben, nach Reisen. Sie wollten alles sehen, alles begreifen, alles nachholen, was sie versäumt hatten, alle Träume, und sofort, die in Hermann Haacks geographischen Atlanten eingesperrt gewesen waren. Ich hatte meinen Winkel auf dem Dachboden mit Landkarten tapeziert, dort hockte ich und reiste die schönsten Reisen der Welt, vor mir ein Lederkoffer, aus seinem Exil hinter den Tontöpfen

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