Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen
erstarren, selbst Wachtmeister Jakobs Voltigierstab über dem Schillerplatz, die Stehgeiger des »Szeged« hielten inne, die Vier Brummers verstummten im »Café Prag«, der Komiker Eberhard Cohrs fand keine Worte mehr, während Conférencier O. F. Weidling, der im Friedrichstadtpalast dem Politbüro das rote Futter seiner Weste präsentierte und dafür geschaßt wurde, zum besten gab, was Wladimir Iljitsch Lenin zur Rennwagenfrage sagte. Ulli Melkus, mit der »81« seines Vaters auf der Motorhaube, Blutgruppe am Helm, zog seine Bahn auf dem Schleizer Dreieck, die Beobachter auf Obstkisten und als Kletterkünstler auf den »Storchennestern«, Masten mit Sitzkörben, in denen sie im Wind und ihrer Begeisterung schwankten. Essen vom Primuskocher, Waschen aus der Gießkanne, einer sei des anderen Schraubgehilfe, einer des anderen Idee. Vater ging zur Asta Medica, die das Arzneimittelwerk übernahm, diente von Grund auf, mit fünfzig Jahren, im Firmensitz An der Pikardie, bevor er nach Warschau wechselte, wo ihm, Klischee hin, Klischee her, am Tag seiner Ankunft das vollgepackte Auto und fünfundzwanzigtausend Mark Startkapital gestohlen wurden. Auf den Rennstrecken übernachtete man im Wohnwagen, gab seinen Urlaub für das Gefühl, mit einem Trabant kurz vor dem Fliegen zu stehen (Helmut Aßmann, Tempo 199). Gefahren für ’ne Wurst, ’nen Kuß, ’nen Blumenstrauß. Nimm, was du hast, und mach was draus. Nichts erklärte die Linien der silbernen »Zigarren« von Heinz Melkus, die auf Achsen, lang und liebend wie ausgestreckte Arme, durch Hohenstein-Ernstthal rasten, schneller und schneller, doch immer im Kreis, besessen von der Leichtigkeit und Ikarus’ Ruhm. Wir hörten Sandow, Feeling B, Pension Volkmann, City, Pankow. Anna mochte Tamara Danz. Dixielandfestivals, die Enge im Jazzclub »Tonne« unter dem zerbombten Kurländer Palais, Tausende in der Jungen Garde und zu den Umzügen am Terrassenufer. Wir hörten Amiga-Platten mit dem orangefarbenen »J« der Jazzreihe, die meine Eltern von ihrem Freund, dem Bildhauer Kazzer, bekommen hatten, der Anfang der Achtziger das Leben in der DDR nicht mehr ertragen hatte und geflüchtet war. Armstrong sang den Tiger Rag. Hans’ Frau Gisela verlor ihre Arbeit, lief sich beim Rat des Stadtbezirks die Füße wund: Ausreise, Familienzusammenführung zwei Jahre später, bei manchen dauerte es noch länger: Es war nicht alles gut.
Demonstrationen für die Einheit Deutschlands. Das »L« der Melkus-Fahrschule glitt über fröstelnde Straßen. Vor den Plattenbauten staute sich der Wind, Kinder hüpften auf den Stegen, die über die Schlammbrachen gelegt worden waren. Barpianist Schurich erhängte sich an einerKlaviersaite. Im VEB Elbflorenz wurde die unverkäufliche Schokolade in Container geschaufelt. Ich arbeitete als Hilfspfleger im Krankenhaus Friedrichstadt, auf der »Vier«, wie die Kardiologische Intensivstation, damals noch unter dem Dach des R-Hauses, genannt wurde. Die ersten Supermärkte öffneten. Burger King am Hauptbahnhof. Auf dem Postplatz wurden Pornos verkauft. Das Haus des Buches, inzwischen abgerissen, richtete im Erdgeschoß eine Abteilung für Reiseführer ein, noch heute sehe ich meine Cousine, die dort lernte, eingerahmt von rotblauen Baedekerbänden stehen. Die Elbe spülte Papier an: ungültig gewordene Pässe von der Polizeimeldestelle Goetheallee (heute Standesamt), Akten der Staatssicherheit, angeblich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus der Zentrale an der Bautzner Straße von Mitarbeitern entführt, die Fähre von aufgebrachten Bürgern, in Ermangelung von Besserem, mit Silvesterraketen bombardiert. Unterlagen der Sozialversicherung, Eingaben ans Rathaus, Kontorbücher, Arbeitsverträge, sinnlos geworden, der Platzbauch der Stadt in den Jahren nach der Revolution, als Biographien, Dinge, unzählige Werte, die nichts mehr wert waren, vernichtet wurden, als Neues kam. Neues Geld, Farben, Immobilienmakler, Bagger, neue Formulare. Papier, Papier, das die Reißwölfe fraßen, Chaos, Runde Tische, Idealisten und Betrüger, Schwarzmaler, Hellseher, Morgenrot.
Der Schornsteinfeger ließ seine drahtbewehrte Kanonenkugel in die Essen, schabte, daß es rieselte, den Dreck aus den Wänden, wurde geküßt, bevor er davonradelte, und brachte kein Glück. Thälmannpioniere fuhren zu Schülerkonzerten in den Kulturpalast. Jungpioniere bekamen im Türkischen Bad des Pionierpalasts Märchen vorgelesen. Timurhelfer zogen mit Leiterwagen durch das Hechtviertel, um
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