Die Schwebebahn - Dresdner Erkundungen
gefischt, über und über bedeckt mit Hotelaufklebern in den musikalischen Farben der Belle Époque: Karl-May-Grün, das Ocker von Kairo, Wüstenblau, Weiß wie die Mauern der Souks, Indisch und Nanking-Gelb, PompejanischRot, Amazonasfalter-Violett … Auf der Prager Straße lud ein Kran Container ab, Vorposten der Deutschen, Dresdner, Commerzbank. Begegnungen. Anna. Wir tanzen wie Steptänzer. Fred Astaire ist gut, sehr gut sogar, dieser Kerl mit dem Heuschreckenleib und dem allzu bescheidenen Grinsen. Faunpalast, Parklichtspiele, Schauburg, der Fabelname eines längst geschlossenen Nickelodeons: Alabastra, Filmbühne Wölfnitz, die während einer Vorstellung abbrannte, die U.T.-Lichtspiele in der Waisenhausstraße, Dedrophon-Theater und Institut Kosmographia, Hansa-Lichtspiele … die Namen, die farbigen Traumschneisen, die die tschechischen und Ernemann-Projektoren ins erwartungsvolle Kinodunkel schlugen; Schwarzweißfilme im Hauptbahnhofkino, wo es orangefarbene Tapete gibt und eine Bommelmütze ein Heizungsleck abdichtet. Annas Großmutter arbeitet dort als Kartenabreißerin, die Filmvorführmaschinen ächzen, Sindbad steigt aus der Leinwand, Charles H. Schneer und Ray Harryhausen lassen Tausendundeine Nacht erstehen. Sokura, Sokura! und die Insel der kreischenden Geister. Sindbad und das Auge des Tigers, bei den Hyperboräern im Arimaspiland, über dem die Corona borealis, das grüne Nordlicht, flackert. Manchmal, wenn wir nachts von der Leipziger Straße Richtung Altstadt liefen, blieben wir auf der Marienbrücke stehen, sahen den Güterwagen zu, die langsam und klinkernd (dies eigentümlich nachdenkliche Geräusch) vorüberfuhren, sahen zur Yenidze mit ihrer bagdadhaften, bunt leuchtenden Glaskuppel und dem Minarett-Schornstein daneben, erbaut von Martin Hammitzsch, dafür zeitweilig aus der Architektenkammer ausgeschlossen; er heiratete Angela Raubal, Hitlers Halbschwester, und brachte sich nach Kriegsende um; Erlweinspeicher-Packhof, der einem verwesenden Wal glich, noch gab es kein Maritim-Hotel darin und daneben nicht die gläserne Schanze des Kongreßzentrums Devrientstraße. Manchmal liefen wir zum Japanischen Palais, in dem sich das Völkerkundemuseum befand, rupften Blätter aus den Bäumen, verkrochen uns, wenn es regnete (und was für Regen gab es in dieser Zeit) unter einem der Pavillons am Elbweg, Nike grüßte von der Zitronenpresse der Kunstakademie das Japanische Palais, ein im Drehen erstarrter Porzellankreisel voller Indianerwigwams, Tattoomänner und Totems aus Papua-Neuguinea; die Frauenkirche war noch Ruine.
Gene Kelly finden wir besser als Astaire. Welche Kraft im »Amerikaner in Paris«, welch umwerfende Genialität der Szene in »Singin’ in the rain«, wo Kelly und sein Freund Sprachunterricht nehmen und den Phonetiker, seine Vokaltafeln und Lippenskizzen, in einen Wirbel von Musik und Tanz aufgehen lassen … Abende kurz nach der Revolution und der Maueröffnung am 9. November. Irgendwer hat irgendwem einen Tip gegeben, daß irgendwo in der Robert-Matzke-Straße über drängende Probleme dieser Zeit gesprochen werden soll. In unfehlbarer Trance, wie ausgehungerte Füchse den Hühnerstall, findet man die eine Tür im Irgendwo, sie ist mit tausend Kronkorken benagelt, es gibt Erdnußflips, und »um einen kleinen Lichtkostenzuschuß wird gebeten«. Die einen wollen nach links, die anderen wollen nach rechts, die dritten wollen arbeiten wie hier und leben wie drüben, der vierte geht Bier holen. Krusten von den Ichs kratzen, nach so langem Schweigen.
Wem spielt der Bettelmusikant mit »Weltmeister«-Akkordeon und Schiebermütze, vor den Mülltonnen und der Teppichklopfstange? Singt er zum Balkon der Leipziger Straße 27 / 29, früher Fahrschule und Werkstatt Melkus, die Fenster nun zugenagelt, mit den grellneonfarbenen Plakaten für Events und auflegende DJs zugekleistert, der Balkon abgeschlagen? Unzählige Dresdner lernten hier Autofahren und bekamen, vom Meister mit Schlips und weißem Kittel persönlich, bei der Einweisung zu hören: Autofahren und Singen / kann man nicht erzwingen. Manchmal tauchte auf den Dresdner Straßen eine der sagenhaften RS-1000-Flundern auf, die Heinz Melkus und sein »sozialistisches Entwicklungskollektiv« einhundertundeinmal, in feierabendlicher Handarbeit, bauten, einsame Flügeltür-Himmelskörper im irdischen Treibgrau aus Kommißbrot-Aerodynamik, Ersatzteilmangel, Sowjettechnik und Improvisationskunst; Verkehr und Gegenverkehr schienen zu
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