Die schweigenden Kanäle
durch Sie nehmen lasse!« Er ging zur Labortür und stieß sie auf. Mit der Rechten zeigte er auf die kleine Tür im Hintergrund des hellen Raumes. »Sehen Sie diese Tür, Dottore? Dahinter liegt ein kleiner Raum, in den von oben eine winzige, gewundene Treppe führt. Der Keller, in dem wir uns befinden, liegt vier Meter unter der Wasseroberfläche des Canale Santa Anna. Durch einen Hebeldruck werden einige Sprengladungen gezündet, die die Mauern dieses Kellers eindrücken. Niemand wird oben den Knall hören. Aber Sie werden wie eine Ratte ersaufen, Dottore. Das ist ein schrecklicher Tod …« Cravelli schloß die Tür zum Labor und ging zu der Treppe nach oben. »Überlegen Sie es sich, mein Lieber – Uns bleibt nur noch eine winzige Zeitspanne. Wenn die Polizei das Haus betritt und es durchsuchen will, drücke ich den Hebel herunter –«
Schroff wandte er sich ab, verließ den Raum und schloß hinter sich die Tür ab. Sein Schritt stampfte nach oben und verlor sich.
Bleich starrte Dr. Berwaldt auf die geschlossene Tür. Die Tapferkeit fiel von ihm ab. Nichts blieb übrig als die lähmende Angst, in diesem Keller elend zu ertrinken.
*
Noch immer schrien die Zeitungsjungen auf den Straßen den Namen Dr. Berwaldt aus. In der Halle des Hotels ›Excelsior‹ drängelten sich die Journalisten und Fotoreporter und belagerten das Zimmer des Direktors.
Entgegen aller Befürchtungen waren die Gäste nicht fluchtartig abgereist. Im Gegenteil … telegrafisch kam eine Flut von Zimmerbestellungen bei der Rezeption an. Vor allem Amerikaner auf Europatrip meldeten sich an. Nach historischen Trümmern aus der Römer- und Griechenzeit wurde ihnen jetzt eine wirkliche handfeste Sensation geboten, von der man später erzählen konnte.
Ilse Wagner hatte sich etwas beruhigt. Rudolf Cramer – auch wenn er nicht Cramer heißen sollte – hatte sich mit einer Verbissenheit auf das Rätsel Dr. Berwaldt gestürzt, die sie nicht erwartet hatte. Jetzt kam ihr auch voll zum Bewußtsein, daß alles kein Irrtum mehr war, sondern daß Dr. Berwaldt in etwas Geheimnisvolles verwickelt worden war, von dem man immer noch nicht wußte, was es sein konnte. Je mehr sie darüber nachdachte – und sie konnte es jetzt ohne die Sorge, was aus ihr werden würde – verdichtete sich in ihr die Tatsache, daß ihre Reise nach Venedig in engstem Zusammenhang mit den Merkwürdigkeiten um Dr. Berwaldt stehen mußte.
Zimmer 8-10 in diesem Hotel, dachte Ilse Wagner. Wie auf allen Reisen hatte Dr. Berwaldt auch dieses Mal seine Korrespondenzmappe mitgenommen. Aus den dort abgehefteten Briefen mußte ersichtlich sein, mit wem er in Venedig zusammentreffen wollte. Die letzten Tage vor seinem Abflug aus Berlin hatte er alle Briefe selbst geöffnet und auf seiner Reiseschreibmaschine auch selbst beantwortet. Im Büro existierte kein Durchschlag dieser Schreiben. Sie konnten nur in der mitgenommenen Korrespondenzmappe sein. Hier mußte sich eine Spur durch das Rätsel finden lassen.
So plötzlich ihr dieser Gedanke kam, so umgehend führte sie den daraus wachsenden Plan aus.
Sie verließ ihr Zimmer, fuhr in den ersten Stock und blieb in dem langen Flur stehen, nachdem sie den Lift verlassen hatte. Eine Weile wartete sie, ob ein Zimmermädchen oder ein Etagenkellner kommen würde, aber niemand ging über den Flur.
Nur aus dem Bereitschaftszimmer der Etagenbedienung tönte leise Radiomusik.
Noch einmal blickte Ilse Wagner nach rechts und nach links. Nichts. Leise rannte sie den Flur herunter, blieb vor der Tür Nr. 8 stehen, sah sich wieder um, probierte, ob die Tür abgeschlossen war, und als sie nachgab, schlüpfte sie schnell in das Appartement.
Wie schon bei dem Besuch Cramers war das Zimmer in ein dumpfes Halbdunkel gehüllt. Die schweren Übergardinen waren noch zugezogen, das Bett aufgeschlagen, der Schlafanzug einladend gefaltet auf der Decke.
Mit schnellem Blick überflog Ilse Wagner das Zimmer. Sie rannte in das Nebenzimmer, den Salon, sah die leere Schreibtischplatte, zog die Schubfächer heraus und untersuchte die dort liegenden Papiere. Sie durchsuchte die Schränke, schnallte die Koffer auf und wühlte die frische Wäsche durcheinander. Aber sie fand kein Aktenstück und auch nicht die Korrespondenzmappe. Enttäuscht setzte sich Ilse Wagner auf den Schreibtischstuhl.
Ihr Blick fiel dabei auf den Papierkorb. Sie hob ihn auf den Schreibtisch, und wie Rudolf Cramer begann sie, die zerknüllten Papiere zu glätten und durchzusehen. Dabei fand
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