Die schweigenden Kanäle
wenn Sie darauf anspielen wollen … Ich sehe nicht ein, warum ich es leugnen sollte …«
Bei der Erwähnung des Hotels jagte es plötzlich heiß durch Cravellis Körper. Es war ein solcher innerer Anprall, daß er sich mit dem Rücken gegen die Wand lehnen mußte und irgend etwas hinter sich ergriff, um sich daran festzuhalten und nicht einen wilden Satz auf seine Besucherin zu vollführen. Es war ein Gedanke, der ihn fast atemlos machte.
»Wer sind Sie, Signorina …«, fragte er mit höchster Anstrengung, seiner Stimme einen normalen Klang zu geben. Er hatte das Gefühl, platzen zu müssen.
»Ilse Wagner –«
Cravelli schloß einen Moment die Augen. Oh, dachte er. Oh, mein Herz zerspringt. Ich halte diesen Blutstrom nicht aus, ich zerplatze in dieser Sekunde des Sieges.
»Die Sekretärin von Dottore Berwaldt …«, rief Cravelli heiser.
»Ja. Aus Berlin –«
»Aus Berlin!«
Es war wie ein Schrei. Alle Freude, aller Triumph, alle Hoffnung, alle Siegeslust klangen in diesem Ruf wider.
»Endlich sind Sie da! Endlich! Endlich!« Cravelli schwamm in einem Meer voll Wonne. »Madonna mia … wir suchen Sie schon seit Tagen! Wie einen verlorenen Diamanten suchen wir Sie! Dr. Berwaldt mußte dringend nach Florenz, und er vergaß, daß er Sie vom Bahnhof abholen wollte. Am nächsten Morgen war er wieder hier … er hat sich fast die Haare ausgerauft. Wir sind von Hotel zu Hotel gefahren, wir haben Gasthof um Gasthof abgesucht. Am Ende war er ganz verzweifelt und bat mich, alles zu tun, um Sie zu finden! Aber was sollte ich tun? Sie waren in Venedig verschwunden! Dottore Berwaldt aber mußte heute wieder nach Florenz.«
Cravelli schlug die Hände zusammen. »Und nun sind Sie hier – durch einen alten Briefumschlag! Ich muß sagen, Signorina … Ihr Kombinationstalent ist einzigartig! Wie wird sich Dottore Berwaldt freuen, wenn er von Florenz zurückkommt –«
Ilse Wagner preßte die Hände auf das Herz. Die Spur war richtig. Cravelli war mit Berwaldt zusammen gewesen. Wußte auch Cramer davon und ließ Cravelli deshalb bewachen? War es Wahrheit, daß Berwaldt in Florenz weilte? Und das Wichtigste: Warum hatte Cramer ihr nicht gesagt, daß Cravelli und Berwaldt bekannt miteinander waren? Welche Rolle spielte Cramer?
»Dr. Berwaldt lebt also?« fragte sie.
Cravelli riß die Augen theatralisch auf. »Warum sollte er nicht leben? Sie meinen den Zeitungsartikel? Dummes Zeug … man will die sensationsarme Zeit etwas beleben! Die Presse hat eine ›Saure-Gurken-Zeit‹ – man nennt das so! Dr. Berwaldt ist gesund wie wir zwei. Nur hat sein plötzliches Verschwinden einen politischen Hintergrund. Den braucht die Öffentlichkeit natürlich nicht zu wissen. Es geht um Millionenbeträge! Sie wissen doch … seine Entdeckung! Er kann mit ihr die gesamte Medizin umstellen! Es ist eine Entdeckung, deren Wert man überhaupt nicht in Zahlen ausdrücken kann. Und ich –« Cravelli hob sich etwas auf die Zehenspitzen und streckte den Kopf hoch – »ich habe zu seinem unermeßlichen Glück die Brücke geschlagen –«
Ilse Wagner atmete auf. Die Lösung des Rätsels schien ihr jetzt so banal, daß sie sogar lachte. Cravelli lachte mit, aber es war ein heiseres, angespanntes Lachen.
»Ich hatte solche Angst«, sagte sie.
»Angst? Ach, wegen des Artikels! Ich habe die Zeitungen sofort nach Florenz nachgeschickt. Schon morgen wird Dottore Berwaldt alles dementieren und sich der Öffentlichkeit stellen. Morgen oder übermorgen … wenn er wieder hier ist … Erweisen Sie mir heute das Vergnügen, mit Ihnen zu Abend zu essen«, sagte er. »Schicken Sie Ihren Gondoliere weg … ich bringe Sie mit meiner Jacht ins Hotel zurück …«
Ilse Wagner zögerte. Sie dachte an die Verabredung mit Cramer, an die geplante Gondelfahrt und das Versprechen, viele Unklarheiten in dieser Nacht zu erklären.
»Ich bin bereits verabredet –«, sagte sie ausweichend.
Cravellis Geierkopf fuhr wie hackend vor.
»Unmöglich! Sie sagen bitte alles ab. Nie, nie wird es Dottore Berwaldt mir verzeihen, daß ich Sie habe gehen lassen. Endlich haben wir Sie gefunden! Alle Verzweiflung hat ein Ende! Sie sind mein Gast … etwas anderes gibt es gar nicht –«
»Ich kann nicht absagen.«
»Ich werde es für Sie übernehmen.« Cravelli lächelte breit. »Der Zauber Venedigs … ich kenne das. Man muß sich verlieben, ob man es will oder nicht. Und ehrlich: Venedig lernt man erst zu Zweien kennen. Dann seufzen die Brücken wirklich, und das Wasser
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