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Die schweigenden Kanäle

Die schweigenden Kanäle

Titel: Die schweigenden Kanäle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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schmutzige Musikanten und spielten auf Lauten, Mandolinen, Geigen und kleinen, untereinander abgestimmten Handtrommeln alte venezianische Lieder. Sogar ein Sänger war unter ihnen. Mit hellem, klarem Tenor sang er mit aller schmelzenden Sehnsucht und jenem angeborenen belcanto, der den italienischen Gesang unsterblich und unnachahmbar macht.
    Ilse Wagner winkte. Die Gondel glitt langsamer durch den Canale Santa Anna. Sie sah an der Hauswand empor und bemerkte, daß auf dem Balkon jemand saß. In einem Korbliegestuhl ruhte die Gestalt weit zurückgelehnt. Ab und zu wehte eine dünne blauweiße Qualmwolke über die Balustrade. Sergio Cravelli saß und genoß die Musik. Er hatte sich mit den Bettlern ausgesöhnt. Nicht, daß er sie beteiligte oder daß er wußte, warum sie sein Haus umlagerten … danach zu fragen, war sinnlos. Ihm gefiel nur, daß statt der zerlumpten Gestalten eine Horde Musikanten gekommen war. Cravelli liebte Musik wie jeder Italiener. Drei Dinge gab es in seinem Leben, die ihm heilig waren: das Geld, die Macht und die Musik. Es war eine merkwürdige Zusammenstellung, aber sie paßte zu ihm. So oft er Musik hören konnte, nahm er die Gelegenheit wahr. Vor allem die alten venezianischen Gesänge gingen an sein Herz. Sie erinnerten ihn an seine Mutter. Sie hatte eine gute Stimme gehabt, die arme Frau, und sie sang die alten Lieder während des Putzens und Gemüselesens. Cravelli erinnerte sich, daß als Kind immer Gesang um ihn herum gewesen war.
    Ilse Wagner winkte noch einmal. Die Gondel blieb in der Mitte des Canale Santa Anna stehen. Deutlich sah man jetzt die Gestalt auf dem Balkon. Die große, adlerschnabelige Nase, das energisch vorspringende Kinn, lange, knochige Hände, die auf der Korbstuhllehne den Takt schlugen.
    »Ist er das?« fragte Ilse Wagner leise. Der Gondoliere sah sie verwundert an.
    »Das sein Signore Cravelli –«
    Ein körperliches Unbehagen stieg in ihr hoch. Sie versuchte, die wenigen Merkmale, die sie sah, zusammenzusetzen, zu ergänzen und daraus den ganzen Menschen Cravelli zu formen. Es ergab ein Bild, das neue Furcht in ihr aufkommen ließ. Sie steckte die Hände wieder in das kalte Wasser und spürte wohlig, wie die heiße Erregung in ihr verging.
    »Fahren Sie mich an die Treppe …«, sagte sie. »Und warten Sie. Ganz gleich, wie lange es dauert –«
    »Si, Signorina …«
    Dann stand sie wieder vor der hohen, dicken, eisenbeschlagenen Tür und bewegte den bronzenen Klopfer im Löwenmaul. Dumpf hallten die Schläge durch das Haus, als läge hinter der Tür eine riesige, leere Grotte. Die Bettler sangen weiter. Einer von Ihnen machte eine Notiz in einem Schreibblock. Er riß das Papier heraus und gab es einem Geiger. Dieser legte sein Instrument auf die Stufen der Treppe, sprang in einen alten farblosen Kahn und ruderte schnell davon.
    Hinter der Tür wurde ein schwerer Riegel zurückgeschoben. Es knirschte und schrie verrostet. Knarrend schwang die dicke Tür zur Seite. Der Hausmeister sah Ilse Wagner fragend an.
    »Signorina?« fragte er. »Sie waren schon einmal hier …«
    »Ja. Herr Cravelli war nicht im Hause. Ist er jetzt … Ich sah ihn auf dem Balkon …«
    Der Hausmeister trat zur Seite. »Bitte Signorina.«
    Ilse Wagner betrat den Palazzo Barbarino. Sie war erstaunt, wie sicher und fest ihr Schritt war. In der großen Halle sah sie sich um.
    Der Hausmeister entschwand durch eine Tür und ließ sie allein. In der gleißenden Beleuchtung eines riesigen Kristalleuchters blitzten an den Wänden alte Waffen und Rüstungen. Gobelins mit mittelalterlichen Ritterspielen und exotische Lanzen und Schilde umrahmten einen riesigen Marmorkamin.
    Diese Minuten des Wartens wurden zur Qual. Sie spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte, wie sich die Furcht eisig auf ihr Herz legte und wie ihr geringer Mut kleiner und kleiner wurde und von einem Gefühl zerdrückt wurde, einfach wegzulaufen, die Tür aufzureißen und sich in die Gondel zu stürzen.
    Sie kam nicht mehr dazu. Über die breite Treppe kam Sergio Cravelli herab. Er lächelte wohlwollend, obwohl er ungehalten war, daß man ihn den Liedern seiner Kindheit entriß. Mit langen Schritten nahm er die breiten Stufen, den Kopf etwas vorgestreckt.
    Wie ein Geier, dachte Ilse Wagner. Genau wie ein Geier, der eine Beute wittert.
    »Ich stehe zu Ihrer Verfügung, Signorina …«, sagte Cravelli. Wer ist sie? fragte er sich gleichzeitig. Sie ist eine Deutsche, das sagte mir Fausto, der Hausmeister.
    »Ich … ich wollte Sie

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