Die Schwere des Lichts: Roman (German Edition)
eroberte andere Königreiche. Die Prinzessin war traurig und einsam und dachte, ihr Herz würde in zehn Millionen Teile zerbrechen. Sie ging im Garten spazieren und nickte den Höflingen und Narren zu, aber sie vergaß, wie man lächelt. Sie saß in ihrem Zimmer und starrte aus dem Fenster und dachte an ihre liebe, wunderschön
Dann eines Tages brachte der König eine neue Mutter mit nach Hause. Die Prinzessin schöpfte wieder Hoffnung. Aber etwas Schreckliches passierte – die Königin blickte hoch zum Fenster der Prinzessin, und die Prinzessin sah, wie gemein die Augen der Königin waren.
Der König ging wieder Krieg führen, und die Königin übernahm das Schloss. Es war schlimmer, so eine Mutter zu haben, als gar keine.
Die Prinzessin suchte sich viele Fluchtorte im Schloss. Eines Tages versteckte sie sich in der Bibliothek und las die Geschichte von Aschenputtel, von der Prinzessin, die Asche zusammenfegte und im Keller schlief. Das Aschenputtel wartete ewig, bis der Prinz mit dem gläsernen Schuh kam und sie mitnahm, weil sie so schön war. Er setzte sie auf sein weißes Pferd und nahm sie mit in ein besseres Schloss, weit weg von der bösen Königin.
Die Prinzessin verschwendete viel Zeit damit, auf ihren Prinzen zu warten. Die Prinzessin machte all das, was eine Prinzessin tun muss, wie auf Bälle zu gehen und am langen Esstisch zu Abend zu essen und Bauern zu umarmen. Sie tat alles, was erwartet wurde, sie war sogar nett zu der bösen Königin und tat immer so, als wäre sie glücklich. Die Prinzessin war hübsch, ruhig und sehr nett, aber trotzdem kam der Prinz nicht.
Eines Tages wachte die Prinzessin auf, packte ihren schicken goldenen Koffer und rannte fort in ein weit entferntes Land, wo es keine Könige, Königinnen oder Prinzen gab. Nur wirklich nette Leute. Und sie lebte glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Das Ende.‹«
»Toll«, sagte er.
»Ja. Was für ein literarisches Talent in so jungen Jahren.«Ich legte die Geschichte in die Schachtel und lehnte mich im Stuhl zurück.
»Das war brillant, Ellie. Wirklich. Du hattest in dem Alter schon etwas begriffen, was viele Erwachsene nicht wissen.«
»Und das wäre?«
»Dass wir uns selber retten können.«
Ich nickte. »Das habe ich damals bestimmt geglaubt. Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber weißt du, was die verlockendste Art der Selbstrettung ist?«
»Na?«
»Einfach nicht mehr zu lieben.« Ich beugte mich vor und betrachtete die Stelle auf dem Rasen, wo der verletzte, flugunfähige Vogel gelegen hatte. »Nicht mehr zu fliegen.«
»Wenn unsere Seele verletzt wird, hören wir manchmal auf zu lieben, um uns zu schützen. Jeder geht seinen Weg, aber das ist nicht deiner.«
Ich nickte, schloss die Augen und ließ den Kopf gegen die Stuhllehne sinken. Dann wehten seine Worte durch die Morgenluft wie ein Flüstern der Wahrheit.
Ich riss die Augen auf und sprang hoch. »Rühr dich nicht vom Fleck. Ich habe was für dich.«
»Hm?«
Ich rannte ins Haus und holte Mutters Tagebuch. Auf dem Rückweg stolperte ich über eine kaputte Schieferplatte und landete fast auf Onkel Cottons Schoß. Das Blatt Papier in meiner Hand hielt ich ihm entgegen.
»Was ist das?«, fragte er.
»Ein Brief«, sagte ich. »Ich glaube, er war an dich gerichtet.« Ich hielt Mutters letzten Liebesbrief in der Hand und bot ihn Cotton dar, wie wohl meine Mutter ihm einst ihr Herz dargeboten hatte.
»Woher weißt du es, Ellie?« Seine Stimme drang aus einer anderen Zeit herüber, bevor es mich gegeben hatte, einer Zeit, in der er diesen Brief hätte lesen können, und dann würde vielleicht keiner von uns beiden hier stehen, weil die Welt eine andere wäre.
»Ich habe es gerade eben erst verstanden. Als du gesagt hast, dass man manchmal aufhört zu lieben, um sein Herz zu schützen, da wusste ich es. Du hast das getan. Und Mutter auch, und nur du konntest wissen, warum.«
Er sah auf. »Ich habe nie aufgehört zu lieben, Ellie. Niemals.«
Der Brief in meiner ausgestreckten Hand flatterte im Wind. »Nimm ihn«, sagte ich.
Er nahm ihn.
»Ich möchte, dass du mir von dir und Mutter erzählst.« Ich hielt inne. Ein Gefühlssturm zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. »Bitte«, fügte ich hinzu.
Er spielte mit einer leeren Blumenvase auf dem Tisch herum und erwiderte dann meinen Blick. »Ich will meinem Bruder nicht weh tun. Niemals. Er darf das nie erfahren.«
»Bist du deswegen nie hier gewesen? Deswegen haben wir dich nie besucht?«
»Sicher
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