Die Schwere des Lichts: Roman (German Edition)
hat das Auto schon abgeholt, dafür habe ich gesorgt.«
»Ich bin nicht verletzt«, sagte ich zu Dad, »weil ich nicht gefahren bin.«
»Was? Das verstehe ich nicht.« Er sah abwechselnd Rusty und mich an, als würden wir Augenkontakt-Pingpong spielen.
»Ich habe der Polizei gesagt, dass ich gefahren sei, weil Rusty getrunken hatte.«
»Das ist absurd«, sagte Dad.
Rusty stieß ein Geräusch aus, das wie ein Lachen klang, aber keines war. »Absurd? Wäre es dir lieber, mich wegen Alkohols am Steuer gegen Kaution rauszuholen, als hier in der Küche mit mir Kaffee zu trinken?«
»Mir wäre lieber, du wärst nicht gefahren«, sagte Dad.
Rusty sah sich um, und als er keinen Rückhalt fand, sagte er: »Ich hole ein paar Akten aus dem Büro. Ich muss mich nicht rechtfertigen. Dies ist mein Haus. Ich bin in einer halben Stunde wieder da.«
Er stellte seine Kaffeetasse ab und ging ohne ein weiteres Wort, doch das Gesagte blieb hängen und füllte die ganze Küche aus.
Dad und ich standen schweigend da, bis ich sagte: »Lass uns raus auf die Veranda gehen.«
Dad legte mir die Hand auf die Schulter. »Ich habe die Schachtel mit den Geschichten mitgebracht, um die du gebeten hattest. Sie war neben dem Weihnachtsschmuck auf dem Dachboden. Ich habe überall gesucht.« Er klopfte auf eine blaue Plastikbox auf dem Tisch, die mir noch gar nicht aufgefallen war. »Deine Mutter hat alles aufgehoben, was du je geschrieben hast. Wusstest du das?«
Ich nickte. »Ja. Ich wusste nur nicht, wo.«
»Hier ist ein Schild: Ellies Geschichten. Du kennst ja deine Mutter, sie hat alles beschildert und eingeordnet,von ihrer Kleidung bis zu den Fotos. Wenigstens meine Unterwäsche hat sie in Ruhe gelassen.« Er lachte und schüttelte den Kopf. »Jedenfalls hast du jetzt alles. Ich fahre rüber in den Baumarkt und hole Werkzeug, damit ich euren Gartenzaun reparieren kann. An der Ecke fällt er auseinander. Bin gleich zurück.«
Ich umarmte ihn. »Danke, Dad.«
Ich ging hinaus auf die Terrasse und sah mir die Geschichten und Bilder aus meiner Kindheit an, dann hielt ich mein Gesicht in die Sonne und wusste, dass ich heute Rusty Calvin verlassen würde. Wenn Angst und Ruhe gleichzeitig existieren können, so war das ein solcher Moment.
Die Tür schlug, und ich drehte mich in der Erwartung um, Rusty zu sehen, aber vor mir stand Onkel Cotton. Ich sprang auf und umarmte ihn. »Was machst du hier?«
»Na ja, ich wollte sowieso deinen Dad besuchen, und als er anrief und von deinem Unfall erzählte, dachte ich mir, jetzt wäre sicher ein guter Zeitpunkt.«
Ich drückte seine Hand. »Danke dir, aber … es war nicht mein Unfall.«
Er nickte. »Ich weiß. Dein Vater hat gerade angerufen.«
»Setz dich«, sagte ich und deutete auf einen Stuhl. Wir sahen in den Garten und dem Morgen entgegen. »Schlimme Nacht?«, fragte er.
»Schlimmer geht’s nicht.«
Er zeigte auf die Schachtel. »Was ist das?«
»Bilder und Geschichten aus meiner Kindheit.« Ich hob den Deckel hoch, wühlte mich durch das Papier und lachte über meine schiefe und krumme Schrift und die ungeschickten Zeichnungen. Ein Blatt hielt ich Cotton hin. »Mein Meisterwerk. Es heißt ›Mein Leben‹. Ich war zehn,als ich es geschrieben habe. Ich war wohl der Meinung, ich hätte bereits genug erlebt, um es aufzuschreiben.«
Er nahm mir das Blatt ab. »Wie süß.«
Dann fand ich »Das neue Aschenputtel« und faltete das Blatt auseinander. »Hier gehörte eine Zeichnung dazu, aber die hatte Mutter in ihr Tagebuch gelegt. Ich weiß nicht, warum – jedenfalls ist das die Geschichte dazu.«
»Lies vor«, sagte er.
»Bestimmt nicht. Ich lese doch einem Schriftsteller keine Geschichte vor, die ich mit neun Jahren geschrieben habe.«
»Bitte«, sagte er. »Immer muss ich vorlesen, nie liest jemand mir vor.« Er lächelte, und ich konnte nicht widerstehen.
»›Das neue Aschenputtel‹«, sagte ich mit überlauter Stimme, dann fuhr ich leiser fort, »›Von Ellie Eddington, neun Jahre alt. Es war einmal eine Prinzessin, die in einem wunderschönen Schloss lebte. Das Schloss war aus Stein. Efeu kroch die Wände hoch, so dass man die Risse und Spalten nicht sehen konnte. Die Prinzessin wohnte in einem Zimmer, von dort konnte sie den Garten und den Brunnen sehen. Sie liebte ihre Mutter, die Königin, sehr, und die liebte sie auch. Eines schrecklichen Tages starb die Königin, und die Prinzessin war allein. Der König war nett und lieb, aber er war immer weg und führte Kriege und
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