Die Schwere des Lichts: Roman (German Edition)
spürt man es nur. Dann weiß man es.«
»Manchmal«, sagte ich, spürte die Brise und eine Veränderung tief in mir, »fühlt man, bevor man weiß.«
»Natürlich.«
Erst das Gefühl, dann das Wissen. Und manchmal auch – das Warten.
Ich gab ihr einen Kuss. »Danke, Birdie.« Dann lief ich zum Gästehaus hinüber, um mich vorzubereiten. Ein Jubilee: wenn alle Schuld vergeben wird und wir neu beginnen können.
Während ich auf das Jubilee wartete, rollte ich das Papier auseinander, das immer noch auf dem Esstisch lag, und beendete, was ich angefangen hatte – die Zeitschiene, in der ich jetzt die Lücken mit meinem neuen Wissen füllte. Dann las ich zum allerletzten Mal Mutters letzten Eintrag. Ich würde ihr Tagebuch nie wieder öffnen. Ich ließ das Bedürfnis los, mehr zu erfahren.
Ihren Tod hatte sie nicht geschrieben. Wer könnte das auch? Sie hatte Ziele für das kommende Jahr, aber ihre wahren Herzenswünsche waren nur dort beschrieben, wo sie ihr Leben schrieb.
Mein Leben sollte nicht in geschriebenen Wünschen vergehen, sondern in voll ausgelebten Tagen.
S ECHSUNDZWANZIG
N eun Monate später
Das allgemeine Murmeln wird ab und an von Gelächter oder einer lauteren Stimme unterbrochen. Die Menschenmenge im Atlanta History Center schiebt sich an den Fotos und Informationstafeln über die Frauen vorbei, die zwischen 1960 und 1969 »Women of the Year« waren.
Hutch steht ganz hinten im Raum, begrüßt Sponsoren, schüttelt Hände und lächelt dieses verflixte Lächeln, das mir die Seele öffnet. Seine langjährige Lebenspartnerin Hillary steht neben ihm, die Hand auf seinem Rücken. Sie trägt ein langes, hellblaues Seidenkleid und ein Lächeln, das Zufriedenheit ausdrückt. Sie ist bestimmt zehn Jahre jünger als ich, und ich stelle fest, dass ich mit einer Hand meinen Bauch und mit der anderen meine Wange bedecke, als könnte ich mein Alter mit den Händen verbergen.
Ich vermisse ihn. Ich fühle mit schmerzhafter Klarheit, dass ich Hutch O’Brien vermisse.
Ich weiß auch, dass sich manche Dinge nicht reparieren oder heilen lassen. Vergeben: ja. Geheilt: nein. Ich begreife mein Verlangen nach ihm als Narbe im Herzen, die ich trage, weil ich Sicherheit anstatt Liebe gewählt habe, dem Erbe der Perfektion anstatt der Stimme meines Herzens gefolgt bin.
Neun Monate sind vergangen, seit ich Rusty verlassen habe und vorübergehend nach Bayside, Alabama, gezogen bin. Heute bin ich zur Eröffnung der neuen »Womenof the Year 1960–1969«-Ausstellung nach Atlanta gefahren. Für die Geldgeber des History Center und die Angehörigen der geehrten Frauen findet eine Party statt. Dad und ich sind zusammen hier. Der Weg von Bayside nach Atlanta ist mir jetzt so vertraut wie der Garten meiner Kindheit, dem man keine Aufmerksamkeit mehr schenkt, weil das Neue zur Gewohnheit geworden ist.
Meinen Mädchennamen habe ich nicht wieder angenommen, mein halbes Leben lang war ich Ellie Calvin, und so heißt auch meine Tochter. Nachdem ich das Familienheim verlassen hatte, sind im Prozess der Scheidung die Wut, die Verletzungen und der Wahnsinn unserer Ehe hochgekocht, was so schrecklich war, dass ich oft kurz davor war, aufzugeben oder klein beizugeben, einfach weil es zu schmerzhaft wurde. Oft habe ich mich und auch Lil daran erinnern müssen, dass Rusty das, was er über mich und zu mir sagte, nur aus Wut sagte, nicht aus Hass. Sie glaubte mir nicht. Ich glaubte mir selber nicht immer.
Ich wohne jetzt halb bei Birdie, halb bei meinem Vater im Haus meiner Kindheit. Ich gebe in Bayside Kunstunterricht für Kinder und inzwischen auch für Erwachsene und finde neue Freunde. Für mich ist es ein Wunder, wenn man mit Menschen zusammenkommt, die die eigene Leidenschaft teilen. Kunst kann das – Menschen zusammenbringen.
In den schwarzen Tagen kurz vor der Scheidung hatte ich Hutch aufgesucht. Er war freundlich gewesen, hatte mir aber klar gesagt, dass er nicht als Trostpreis zur Verfügung stünde. Ich hatte ihm einen Abschiedskuss gegeben und wusste, dass ich für die Vergangenheit bezahlen musste – ich musste lernen, ohne seine Liebe zu leben.
Das Sommerhaus war Hauptthema der Titelgeschichte»Hausmythen«. Ich schickte Hutch den Artikel mit einer kurzen Notiz, auf der nur stand: »Das war ein wunderbarer Tag. Ellie«.
Zwei Tage später kam derselbe aus dem Magazin herausgerissene Artikel bei mir mit der Post an, dazu ein Zettel: »Schöne Erinnerung. Hutch«. Ich lächelte und wusste, dass wir beide den Artikel
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