Die Schwerelosen
abwärtsgleiten, bis er die zärtliche Berührung des Betons am Gesäß spürte. Er zog ein Heft heraus und machte sich ein paar Notizen. In derselben Nacht noch, in einem Diner im Süden der Stadt, beendete er ein Gedicht von über dreihundert Versen. Amnächsten Tag las er es durch und fand es zu lang. Er kehrte Tag für Tag zur selben Metrostation zurück, zur selben Säule, um das Gedicht zu beschneiden, zu stutzen, zu amputieren. Es sollte genauso kurz werden wie die Erscheinung seines toten Freundes, genauso erschütternd. Man musste alles verschwinden lassen, um nur ein Gesicht zum Erscheinen zu bringen. Nach einem Monat Arbeit überlebten zwei Verszeilen:
The apparition of these faces in the crowd;
Petals on a wet, black bough.
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Dakota und ich haben uns in einer öffentlichen Toilette kennengelernt, in einer Bar. Sie legte mit einem Schwämmchen Make-up auf, als ich mich dem Becken näherte, um mir die Hände zu waschen. Auf öffentlichen Toiletten wasche ich mir nie die Hände, aber die Frau, die sich das künftige Gesicht von Dakota mit einem Schwämmchen herrichtete, machte mich unruhig. Ich wusch mir die Hände.
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Der Verlag hatte seinen Sitz in der Edgecombe Avenue 555, ich verbrachte aber die halbe Woche in den umliegenden Bibliotheken der Stadt, auf der Suche nach Büchern von lateinamerikanischen Schriftstellern, die zu übersetzen oder wiederaufzulegen lohnte. White war sich sicher, dass es nach dem Erfolg von Bolaño vor gut fünf Jahren bald wieder einen Lateinamerika-Boom geben werde. Als (bezahlte) Passagierinauf dem Zug seiner Begeisterung schleppte ich ihm jeden Montag einen Rucksack voll Bücher an und schrieb in meinen Bürostunden detaillierte Gutachten über jedes einzelne. Inés Arredondo, Josefina Vicens, Carlos Díaz Dufoo Jr., keiner überzeugte ihn.
Warst du nicht mit Bolaño befreundet?, schrie White von seinem Schreibtisch aus (ich arbeitete an einem kleinen Tisch neben ihm, also war das laute Geschrei unnötig, es gab ihm aber das Gefühl, ein richtiger Verleger zu sein). Er nahm einen langen Zug aus seiner Zigarette und insistierte: Hast du keine Briefe von ihm oder irgendein Interview oder sonst was, das wir publizieren könnten?, schrie er weiter. Nein, White, ich habe ihn nie kennengelernt. Jammerschade. Hast du gehört, Minni? Wir haben die Ehre, als Mitarbeiterin die einzige Lateinamerikanerin zu haben, die nicht mit Bolaño befreundet war. Wer ist das, Chef?, fragte Minni, die nie irgendwas mitbekam. Das ist der tote chilenische Autor mit den meisten lebenden Freunden.
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Spazieren ging ich wenig, und das in jener Stadt, in der jedermann herumspaziert. Ich ging von meiner Wohnung zum Verlag und vom Verlag in irgendeine Bibliothek. Und natürlich zu dem Friedhof in der Nähe meiner Wohnung. Eines Tages schickte mir meine Schwester Laura in ihrem ewigen Bestreben, bei mir eine Veränderung anzustoßen, eine Mail aus Philadelphia. Da stand nur: 115 West 95th Street. Laura lebte mit ihrer Frau Enea in Philadelphia. Sie leben immer nochdort. Zwei aktive, mit sich zufriedene Menschen. Enea ist Argentinierin und unterrichtet in Princeton. Laura und Enea gehören aller Art von Gruppen und Organisationen an; sie sind Akademikerinnen; sie sind links; sie sind Vegetarierinnen. Dieses Jahr werden sie den Kilimandscharo besteigen.
Ich ging in meinen grauen Strümpfen und dem roten Mantel mit den riesigen Taschen aus dem Haus. Ich wand einen Schal um meinen Hals und lief ohne anzuhalten bis zu der Adresse, die mir Laura geschickt hatte.
Die Koordinaten existierten, gehörten aber zu einem imaginären Haus. Statt Türen, Fenster und Stufen gab es da eine Ziegelmauer, auf die jemand einen Fensterrahmen gemalt hatte, den Umriss einer Vase mit Blumen, eine Katze, die auf dem Fensterbrett schlief, eine Frau, die hinunter zur Straße schaute. Es war ein erlesener Scherz von Laura, kapierte ich zu spät. Ein
trompe l’œil
, das wie eine Trope auf meinen Lebensstil in jener Stadt funktionierte. Ich weiß nicht, was Laura heute sagen würde, da meine einzigen Wanderungen zwischen Wohnzimmer und Küche stattfinden, oder oben zwischen dem Bad und dem Zimmer des Mittleren und der Kleinen. Aber das alles weiß Laura nicht, und ich werde es ihr auch nicht erzählen.
Auf dem Rückweg zu meiner Wohnung bin ich bei einem Flohmarkt vor einer Kirche stehengeblieben. Ich habe eine Anthologie amerikanischer Lyrik von 1900 bis 1950 für einen Dollar gekauft und ein kleines Bücherregal mit vier
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