Die Schwerelosen
Brettern für zehn Dollar. Ich lief gerne mit einem Möbelstück durch die Straßen. Inzwischen mache ich das nicht mehr. Aber alsich es machte, fühlte ich mich wie eine Person mit Zielen. Zurück in meiner Wohnung, stellte ich das Regal in die Mitte der einzigen fensterlosen Wand des Wohnzimmers und legte mein neues Buch auf das erste Regalbrett. Ab und zu schlug ich den Band auf und wählte eins der Gedichte aus, schrieb es auf ein Blatt Papier ab. Wenn ich die Wohnung Richtung Verlag verließ, nahm ich das Blatt mit und lernte die Verse auswendig. William Carlos Williams, Joshua Zvorsky, Emily Dickinson und Charles Olson. Ich hatte eine Theorie, ich weiß nicht, ob es meine eigene war, aber sie funktionierte. Der öffentliche Raum, Straßen und Metrostationen, wurden bewohnbar, sobald man ihnen irgendeinen Wert zusprach oder eine Erfahrung aufprägte. Rezitierte ich jedes Mal, wenn ich durch eine bestimmte Avenue ging, ein Stück aus Paterson, würde diese Avenue möglicherweise nach William Carlos Williams klingen. Der Metroeingang der Station 116. Straße gehörte Ezra Pound:
In the slow float of differing light and deep
,
No! There is nothing! In the whole and all
,
Nothing that’s quite your own.
Yet this is you.
*
Die Milch, die Windel, das Erbrochene und das Aufstoßen, der Husten, die Rotze und reichlich Sabber. Die Zyklen jetzt sind kurz und notwendig. Unmöglich zu schreiben. Das Baby schaut mich aus seinem Babystuhl an, manchmal mitGroll, manchmal mit Bewunderung. Vielleicht mit Liebe, falls wir in diesem Alter fähig sind zu lieben. Die Kleine produziert Laute, die, wenn sie mal reden lernt, wohl kaum ins Spanische aufgenommen werden können. Geschlossene Vokale, kehlige Meinungen. Sie redet so etwas Ähnliches wie die Darsteller in den Dramen von Lars von Trier.
*
Moby habe ich in der Metro kennengelernt. Das ist zwar wahr, aber nicht wahrscheinlich, denn normale Leute wie Moby und ich lernen sich nie in der Metro kennen. Ich könnte stattdessen schreiben: Moby habe ich auf einer Parkbank kennengelernt. Die Parkbank steht in irgendeinem Park, ist irgendeine Bank. Und das ist vielleicht gut so. Vielleicht ist es angemessen, dass die Worte nichts beinhalten, oder fast nichts. Dass ihr Inhalt zumindest variabel ist. Vorhersehbar, dass man sich die Bank grün und aus Holz vorstellt. Dann braucht es einen Kunstgriff, ich schreibe: Moby las die Zeitung auf einer der weißen, etwas schartigen Zementbänke im Morningside Park. Es war zehn Uhr morgens und der Park fast leer, so leer wie das Wort »Park« und das Wort »Bank«. Ein Gärtner, demütig gebeugt, stutzte mit einer Schere die Hecke. Ich müsste vielleicht noch erklären, warum ich um zehn Uhr morgens den Park von Osten nach Westen durchquerte. Ich würde lügen: Ich ging in die Kirche. Oder zum Friedhof, oder in den Supermarkt, was vielleicht fast das selbe war. Oder noch besser, ich hatte die Nacht schlafend auf einer dieser Bänke verbracht.
Aber wozu soll das alles gut sein, wenn doch die Wahrheit ist: Ich habe Moby in der Metro kennengelernt. Ich las in einem Buch, an das ich mich nicht mehr erinnern kann – vielleicht
A orillas del Hudson
von Martín Luis Guzmán – und neben mir blätterte er in einem aufregenden Band mit Fotos aus den Filmen von Jonas Mekas. Ich fragte ihn, wo er dieses Buch aufgetrieben habe, worauf er sagte, er habe es selbst gemacht. Er reichte mir die Karte einer Druckerei, seiner Druckerei, in einem Ort außerhalb der Stadt.
*
Es war sehr leicht zu verschwinden. Sehr leicht, den roten Mantel überzuziehen, alle Lichter auszuschalten, an einen anderen Ort zu gehen, zum Schlafen nicht zurückzukehren. Keiner wartete irgendwo in irgendeinem Bett auf mich. Jetzt ist das anders.
Ich weiß, wenn ich heute ins Kinderzimmer gehe, wird das Baby meinen Geruch wahrnehmen und sich in seiner Wiege strecken, denn irgendein geheimer Ort seines Körpers lehrt es schon jetzt, seinen Anteil von dem zu fordern, was uns beiden gehört, das, was wir uns jeden Tag entreißen, es spürt die Fäden, die uns halten und uns trennen. Ich werde es füttern.
Später, wenn ich in mein Zimmer komme, wird mein Mann ebenfalls seine Portion von mir einfordern und ich werde mich der unbestimmten, so plötzlichen wie stillen Lust seiner Berührung hingeben.
*
Moby besaß ein altes großes Haus aus dem neunzehnten Jahrhundert, nicht weit von der Stadt in einem heruntergekommenen, aber auf seine puritanische Weise angenehmen Dorf. Das Haus
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