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Die Schwerelosen

Die Schwerelosen

Titel: Die Schwerelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valeria Luiselli
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einem grauslichen Städtchen in New Jersey. Mittwochs kam er zum Übernachten, weil er donnerstags zu einem Kurs in die Uni musste. Wenn er da war, schlief ich gerne daheim. Er umarmte mich mit einem langen, unbehaarten Arm. Aber gevögelt haben wir nie. Es war ein stillschweigender Pakt, der unsere Freundschaft schützte. Donnerstags wachte er immer früh auf und holte im Supermarkt an der Ecke Brot und Coca-Cola. Wir frühstückten gemeinsam und sprachen dabei kein Wort.
    Eines Tages wagte ich zu fragen, über was sein Kurs ging.Es geht um Unklarheit, sagte er, an einem Stück Brot kauend. Mehr nicht? Unklarheit? Es kam mir wie ein Witz vor, ich hab ein wenig darüber gespottet, aber er sagte: Das ist der Gipfel der analytischen Philosophie. In diesem Monat würden sie das Paradoxon der materiellen Konstitution behandeln, als Beispiel diene eine Katze, einmal mit, einmal ohne Schwanz.
    Handelt es sich dabei um dieselbe Katze, fragte er mich nach einer langen Erklärung, bei der ich schließlich nicht mehr aufgepasst hatte.
    Ich nickte erst, sagte dann, eher doch nicht, ich wisse es einfach nicht; vielleicht handele es sich ja um eine Winzelchwanzkatze. Pajarote lachte nicht. Er lachte nie. Oder vielleicht lachte er, aber nur, wenn es nichts zu lachen gab. Er war intelligenter als ich, ernsthafter. Er war sehr groß und hatte lange, unbehaarte Arme.
    *
    Jene Wohnung füllte sich allmählich mit Pflanzen, deren schweigsame Gegenwart mich dann und wann daran erinnerte, dass die Welt der Pflege, ja sogar der Zärtlichkeit bedarf. Fast nie gab es Blumen. Blätter schon: einige grüne und sehr viele gelbe. Ich sah eine Handvoll trockener Blätter auf dem Boden und fühlte mich schuldig; ich hob sie auf, goss alle Töpfe, aber dann vergaß ich es wieder ein paar Wochen lang. Nichts ist weniger zu empfehlen, als den unbelebten Wesen eine metonymische Bedeutung zuzusprechen. Glaubt man, dass der Zustand einer Pflanze den Zustand ihrer Seele widerspiegelt oder, schlimmer noch, den eines geliebtenMenschen, ist man zur Enttäuschung oder zu ständiger Paranoia verdammt.
    *
    Das sagte White. Er hatte keinen Schlüssel zu meiner Wohnung. War aber zweimal da. Beide Male erzählte er mir nach ein paar Gläsern die gleiche Geschichte. Vor seinem Haus stand ein Baum, in dem er immer seine verstorbene Frau sah. Er sah sie nicht wirklich, aber er wusste, dass sie dort war. Wie die Angst bei einem Albtraum, wie meine Tochter und mein Mann, die da oben im Zimmer schlafen. Jeden Abend, wenn er heimkam, verabschiedete er sich von ihr, vom Baum, von ihr im Baum. Er sagte nichts, dachte nur an sie, wenn er am Baum vorbeikam, und streifte ihn mit den Fingerspitzen. Es war eine Art, Abschied zu nehmen, noch einmal, jedes Mal.
    Eines Abends vergaß er es. Er betrat seine Wohnung, putzte sich die Zähne und legte sich ins Bett. Da merkte er, dass er seine Frau vergessen hatte. Schuldgefühle bedrängten ihn, und er ging aus dem Haus. Ohne Schuhe. Er umarmte den Baum und weinte, bis seine Socken, die Füße und die Knie nass waren in der verschneiten Straße. Als er ins Haus zurückam, zog er die Socken zum Schlafen nicht aus.
    *
    Über was ist dein Buch, Mama?, fragt der Mittlere.
    Es ist ein Gespensterroman.
    Zum Gruseln?
    Nein, aber er macht ein wenig traurig.
    Warum? Weil sie tot sind?
    Nein, sie sind nicht tot.
    Dann sind es auch keine richtigen Gespenster.
    Nein, es sind keine Gespenster.
    *
    Es gibt verschiedene Versionen der Geschichte. Ich mochte diejenige, die mir White damals erzählt hat, als wir bis spät im Verlag gearbeitet hatten und dann über eine Stunde auf die Metro warten mussten. Wir standen auf dem Bahnsteig, lauerten auf diese Erschütterung im Inneren der Dinge beim Nahen eines fahrenden Zuges, und er sagte mir, dass der Dichter Ezra Pound an eben dieser Station einmal seinen Freund Henri Gaudier-Brzeska gesehen hatte, der ein paar Monate zuvor in einem Schützengraben in Neuville-Saint-Vaast gestorben war. Auf dem Bahnsteig, an eine der Säulen gelehnt, wartete Pound, bis endlich der Zug einfuhr. Als sich die Waggontüren öffneten, tauchte zwischen all den Leuten das Gesicht seines Freundes auf. Innerhalb weniger Sekunden hatte sich der Waggon mit neuen Gesichtern gefüllt, und das von Brzeska wurde in der Menge begraben. Pound blieb überwältigt einige Augenblicke starr stehen, bis erst seine Knie und dann sein ganzer Körper nachgaben. Das ganze Gewicht gegen die Säule gestützt, ließ er seinen Rücken

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