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Die Schwerelosen

Die Schwerelosen

Titel: Die Schwerelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Valeria Luiselli
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war aus hellem Holz, anmutig und fragil. Ich strich ihn blau an, für den Fall, dass White noch einmal in meine Wohnung käme und ihn womöglich erkennen könnte. Ich habe ihn vor meinen neuen Schreibtisch gestellt und einen Brief an meine Schwester Laura geschrieben. Der fing so an:
    Ich wohne an einem Park, wo die Kinder Kinder sind und Baseball spielen.
    *
    Der Mittlere spielt in diesem verwinkelten Haus Verstecken. Es handelt sich um seine eigene Variante des Spiels. Er versteckt sich, und mein Mann und ich müssen ihn suchen. Wir müssen das Baby dabeihaben, und wenn wir ihn schließlich unterm Bett oder in einem Schrank finden, schreit er: Gefunden!, und dann muss die Kleine lachen. Lacht sie nicht, fängt alles von vorne an.
    *
    An einem Freitagnachmittag, als ich in der Bibliothek der Columbia University Bücher durchblätterte, die ich am Montag in den Verlag mitbringen wollte, stieß ich auf einen Brief des Dichters Gilberto Owen, gerichtet an Xavier Villaurrutia: »Ich wohne in der Morningside Av. 63. Am rechten Fenster steht ein Blumentopf, der wie eine Lampe aussieht. Er hat runde grüne Flammen …«
    Der Brief gehört zu dem Band
Obras
, und Owen erstellt darin ein Inventar der Gegenstände in seinem in Harlem angemieteten Zimmer: Schreibtisch, Bilder, Pflanze, Zeitschriften, ein Klavier. Die Koordinaten, die er Villaurrutia angab, ließen mich stutzen: Morningside Av. 63. Das Gebäude musste nur ein paar Straßen von der Bibliothek entfernt und sehr nah bei meiner Wohnung sein. Ich las den Brief nicht einmal zu Ende, legte die restlichen ausgewählten Bücher auf einen Stapel, ging mit den
Obras
an den Ausleiheschalter und dann hinaus auf die Straße.
    Dieses Viertel roch ab drei Uhr nachmittags nach Salz: Schweiß und Tränen der schwarzen und lateinamerikanischen Kinder, die nun aus den Schulen kamen, Schorf an den Knien, Sabber und Rotze an den Pulloverärmeln. Ein dickes Mädchen, breit wie ein Pavillon, lehnte an einem Baumstamm des Morningside Parks und konzentrierte sich darauf, eine Zeichnung fertigzustellen. In der einen Hand hielt sie ein Hühnerbein, an dem sie ab und zu knabberte oder besser saugte, und in der anderen zwischen Zeige- und Mittelfinger die grüne Kreide gepresst, mit der sie ihr Bild vervollständigte. Hinter ihr tauchte ein Junge auf, schlug ihr mit demRucksack in die Kniekehlen – die beiden kleinen molligen Knie gaben nach – und entriss ihr die Kreide. Sie schrie los und warf sich auf ihn,
you madafaka
: Sie schlug ihm mit dem Hühnerbein auf die Stirn und ins Gesicht, bis er zu Boden fiel.
    Ich lief bis zu dem Gebäude von Owen. Ich hatte es schon oft auf meinem Weg zur Metro gesehen, aber nicht gewusst, dass er mal dort gewohnt hatte. Es war ein roter Klinkerbau wie alle in dem Block und hatte große Fenster zum Park hinaus. Als ich davor angelangt war, ging gerade ein alter Mann rein, sodass ich mich hinter ihm hineindrücken konnte. Ich stieg zum ersten, dann zum zweiten Stock hoch; ich stieg weiter. Der Alte blieb im dritten Stock stehen,
afternoon Ma’am, afternoon Sir
, und verschwand in einer Wohnung. Ich stieg weiter zum vierten und fünften Stock, bis mir die Luft und die Treppe ausgingen. Ich fand eine Tür zur Dachterrasse und schloss sie hinter mir. In einer sonnigen Ecke steckte ich mir eine Zigarette an und wartete darauf, dass etwas passierte.
    Da die Welt keinerlei Veränderung anzeigte, begann ich, in Erwartung irgendeines bedeutsamen Zeichens, in dem eben aus der Bibliothek geholten Buch zu lesen. Nichts geschah; ich las und rauchte weiter, bis es allmählich dunkel wurde. Als ich nach ein paar Stunden alle Briefe des Bandes gelesen, den kompletten Gedichtzyklus
Perseo vencido
und meine Zigaretten beendet hatte, beschloss ich, wieder heimzugehen. Ich stand auf, ging auf die Tür zu und schaute aus nach einem Ort, wo ich die Handvoll Kippen loswerden konnte. In der einen Ecke der Dachterrasse stand eine Pflanze in einem Blumentopf, dort könnte ich sie vergraben. Ichsetzte mich auf einen Stapel Zeitungen, die jemand zusammengebunden hatte, um sie später zu entsorgen, und grub ein kleines Loch in die Erde. Wobei ich bemerkte, dass der Blumentopf ganz wie derjenige, den Owen für Villaurrutia beschrieben hatte, nach einer Lampe aussah. Die Pflanze im Topf – vielleicht ein kleiner Baum – war verdorrt. Unmöglich, dass es sich um denselben Blumentopf handelte, den Owen in seinem Brief erwähnt hatte, aber irgendwie war es ein Zeichen, das Zeichen,

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