Die Schwester der Nonne
ignorierte sie sie. Sie fühlte eine schwere Last auf ihren Schultern, und die Traurigkeit dieses grauen Tages drückte sie zusätzlich.
Eine Bäuerin, die ein schweres Bündel Reisig zum Verkauf in der Stadt auf dem Rücken trug, warf es plötzlich beiseite.
»Wer ihnen folgt, wird gesunden. Es sind die Marienmägde«, rief sie. »Meine Mutter wurde von ihnen geheilt, als sie im Hospital des heiligen Georg lag. Es ist die Kraft der Mutter Gottes, die sie weitergeben. Und die Kraft des heiligen Wassers. Wer ihnen folgt, wird gesunden.«
Ihre Worte wurden erhört, und immer mehr Menschen schlossen sich dem Zug an. Die einfachen Leute waren an kein Schweigegelübde gebunden, und so sangen sie und beteten laut, riefen Lobpreisungen Gottes und forderten andere Passanten auf, sich ihnen anzuschließen. Auch Kranke kamen aus den Häusern, an denen die Prozession vorbeizog.
Maria schien es nicht zu bemerken und schaute erst auf, als sie die kleine Kapelle zum heiligen Kreuze erreichten, um zu rasten und zu beten. Von hier aus war es nicht mehr weit. Der Weg gen Osten führte durch Felder und Wiesen. Recht unscheinbar lag der Born inmitten einer Wiesensenke, die dem Besitzer der Funkenburg gehörte. Diese Quelle brach vor Jahren eines Tages aus dem Boden hervor, um später wieder zu versiegen. Nach einer regenreichen Zeit jedoch kam der seltsame Quell wieder zum Vorschein. Die Nonnen des Benediktinerinnenklosters pilgerten immer wieder zu diesem Born. Auch der Müller einer nahe gelegenen Mühle wusste die kleine Quelle zu nutzen und fasste sie mit Geröllsteinen ein, die zuhauf auf den Feldern lagen.
Als die Prozession von der Kapelle her den Born erreichte, glaubten sie zunächst ihren Augen nicht. Rund um die Senke lag das vertrocknete und gelbe Gras platt am Boden. Über den leeren Acker wehte ein unangenehmer Wind und über ihnen kreiste krächzend ein Schwarm schwarzer Krähen. Enttäuschung breitete sich aus. Vor allem viele Kranke und Sieche, die sich mit großer Mühe auf den beschwerlichen Weg begeben hatten, ließen sich kraftlos zu Boden fallen. Maria ließ ihren Blick über die Mutlosen schweifen. Der Anblick schmerzte sie und sie rang ihre eigene Enttäuschung nieder. Es war nicht der Schluck Wasser, den sie jetzt gern getrunken hätte und der ihr nun wie all den anderen versagt blieb. Es war die Hoffnungslosigkeit der Menschen. Wenigstens wollte sie für diese armen Menschen beten und so die Gnade Gottes erbitten, sich ihrer anzunehmen.
Sie kniete nieder und die anderen Schwestern taten es ihr nach. Gundula kniete neben Maria und schenkte ihr einen dankbaren Blick. In Marias Nähe schöpfte sie immer wieder neue Kraft, gleich wie beschwerlich die Aufgabe war, die sie zu bewältigen hatte. Eigentlich sollte sie Marias Geleit und Fürsorge sein, aber immer mehr fühlte sie, wie sie von Maria lernte und von ihr geleitet wurde. Maria besaß eine charismatische Ausstrahlung, der sie sich nicht entziehen konnte und wollte. Fast glaubte sie zu spüren, dass Gott etwas Besonderes mit der Novizin vorhatte.
Maria hielt das Haupt gesenkt. Sie schien nichts mehr um sich herum wahrzunehmen. Nur ihr Schleier bewegte sich sacht im Wind.
Auch Gundula ruhte im Geiste. Eine bleierne Müdigkeit erfasste sie. Sie war weder in der Lage zu sprechen noch sich zu bewegen. Tiefer Frieden durchzog sie und ein grenzenloses Glücksgefühl. Der Himmel erhellte sich, ein gleißendes Licht schien auf sie nieder. Auch wenn ihre Lippen stumm blieben, so arbeitete doch ihr Geist. Sie geriet in eine Art Verzückung, ihre Augen verdrehten sich, und ihr Lidschlag beschleunigte sich. In dem hellen Licht erkannte sie eine kleine Statue der Gottesmutter. Sie war so winzig und unscheinbar, dass Gundula im ersten Augenblick enttäuscht war. Doch die Gestalt wurde größer, nahm Form und Leben an. Zuletzt besaß sie die Größe eines Menschen.
Doch Mutter Maria schaute nicht Gundula an, sondern ihr milder Blick galt – Maria! Diese kniete, in inbrünstigem Gebet versunken, neben Gundula, jedoch fern jeglicher Verzückung. Ja, sie warf sogar einen verwunderten Blick auf Gundula, deren Geist nicht mehr auf der Erde zu weilen schien.
Maria hörte das Murmeln der Gebete der anderen Pilger, und sie spürte den kalten, feuchten Wind in ihrem Gesicht. Die Enttäuschung über die versiegte Quelle steckte in ihr, und auch der Schmerz ihrer Füße drang in ihr Bewusstsein. Und doch – der Himmel schien sich zu öffnen, sandte einen hellen
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