Die Schwester der Nonne
ihrem Schicksal überlassen«, begehrte Maria auf.
»Was willst du denn tun? Du kannst ihr nicht helfen. Bete für sie. Oder nimm lieber an, dass es ein schlechter Traum war.« Sie warf sich wieder auf ihr Lager.
»Was ist denn los?«, fragte jemand verärgert und schob den Vorhang beiseite. »Was ist denn das für ein Krach?«
»Nichts ist los«, erwiderte Gundula. »Maria hat schon wieder Durchfall.«
Der Vorfall ließ Maria nicht mehr los, und sie versuchte, etwas über die beiden Nonnen in Erfahrung zu bringen. Allerdings stieß sie bei den meisten auf Unkenntnis oder Schweigen. Eine Schwester riet ihr, alles schnell zu vergessen und um Gottes willen nichts davon gegenüber der Äbtissin zu erwähnen. Die Qual war unerträglich, mit dem Wissen um Dorotheas Leid zu leben und nichts unternehmen zu können.
Sie ärgerte sich darüber, dass Gundula lustig wie immer war. Was geschahen für unheimliche Dinge im Kloster? Wer steckte dahinter? Warum half niemand? Auf ihre Fragen fand Maria keine Antwort. Um sie herum war eine Mauer aus Schweigen. Es erfüllte Maria mit Entsetzen, dass im Kloster das Leben ganz normal und streng nach den Regeln weiterlief, während im feuchten Keller grausige Dinge geschahen.
Selbst wenn einige Nonnen schwere Schuld auf sich geladen hatten, so ging doch Gnade und Barmherzigkeit vor, um sie auf den rechten Weg zu geleiten. Die Äbtissin war verantwortlich für alles, was im Kloster geschah. Für das Seelenheil der ihr anvertrauten Nonnen, für all die materiellen Dinge, für die Einhaltung der Regeln. Es war viel Verantwortung, die auf ihren Schultern lag. Vielleicht wusste sie nichts von den ungeheuerlichen Vorkommnissen? Dann musste sie unbedingt darüber informiert werden. Warum wollte Gundula nicht, dass sie es tat? Warum schwiegen die anderen Schwestern dazu? War die Äbtissin wirklich so grausam, dass sie die Folterungen zu verantworten hatte?
Maria, die an das Gute im Menschen glaubte, konnte es nicht fassen. An wen sollte sie sich um Hilfe wenden? Sie konnte das Kloster nicht verlassen, nicht einmal eine Nachricht schicken. Den einzigen Kontakt hatte sie zu ihren Mitschwestern – und zu ihrem Beichtvater. Ihn musste sie dringend um Hilfe bitten.
Es waren die Augustiner-Chorherren, die den Nonnen die Beichte abnahmen. Täglich kam einer von ihnen vom Thomaskloster herüber. Die Schwestern bekamen ihn nie zu Gesicht. Er saß bereits im Beichtstuhl hinter einem purpurnen Vorhang, wenn die Nonnen einzeln zur Beichte schritten.
Noch nie hatte Maria so die Beichte herbeigesehnt wie an diesem Tag. Nur mühsam unterdrückte sie ihre Unruhe. Endlich war sie an der Reihe, und sie kniete sich nieder.
»Ehrwürdiger Vater, schreckliche Geschehnisse verwirren meinen Sinn und erfüllen mein Herz mit Sorge und Unruhe. Im Keller unseres Klosters fand ich eine Nonne, die in Ketten geschlagen und deren Leib gequält wurde. Es ist wohl eine arme Sünderin, aber jemand hat die Bestrafung unangemessen vollzogen. Sie klagt und weint und sagt, dass ihre Beine gebrochen seien. Bitte, nehmt Euch dieser Unglücklichen an und befreit sie von ihrer Qual. Niemand kann Liebe wollen und Grausames tun. Eine zweite Nonne ist verschwunden, und niemand weiß, wo sie geblieben ist. Ein frisches Grab lässt Schreckliches vermuten. Im Namen unseres Heilands bitte ich Euch, der Sache nachzugehen. Ich könnte nicht froh dem Herrn dienen, wenn ich wüsste, dass in seinem Namen unrechte Dinge geschehen.«
»Du irrst dich nicht, meine Tochter?«, hakte die männliche Stimme hinter dem Vorhang nach.
»Nein, ich irre mich nicht. Ich hörte des Nachts ihr Weinen und ging der Stimme nach. Ich fand sie in einem schrecklichen Kellerverlies, und sie erzählte mir von ihrem Unglück. Ich weiß nicht weiter, ehrwürdiger Vater, deshalb wende ich mich an Euch.«
»Da hast du recht getan, meine Tochter«, erwiderte er. »Doch bitte ich dich um strengstes Stillschweigen. Dein Gewissen sei hiermit entlastet, denn du hast die Angelegenheit in die richtigen Hände gegeben. Nunmehr werden sich unsere Mutter Kirche und ihre Diener darum kümmern. Sollte es zu einem Verstoß gegen das Gebot der Nächstenliebe und Fürsorge gekommen sein, so werden die Verantwortlichen selbstverständlich zur Rechenschaft gezogen. Gott ist barmherzig, aber er ist auch streng. Deshalb muss jeder Gott fürchten und in Demut und Bescheidenheit verharren. Geh wieder an deine Pflichten, meine Tochter, und diene dem Herrn, wie es dir befohlen wurde.
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